Münchner U-Bahn-Schläger:Zwei kriminelle Karrieren

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Hilflose Helfer: Auch engagierte Behörden konnten die verbrecherische Laufbahn der beiden U-Bahn-Schläger Serkan S. und Spyridon L. nicht stoppen.

Joachim Käppner

Er steht da und umarmt die Frau und sein Kind, küsst die Stirn des Babys und will es nicht mehr loslassen. Der hagere Angeklagte Serkan S., seine Freundin Natascha und die neun Monate alte Samira - im Münchner Landgericht wirken sie wie eine kleine Pietà eines verschenkten Lebenswegs, all dessen, was hätte sein können und niemals sein wird.

Serkan S. und seinen Freund Spyridon L. erwarten harte Strafen, das ist gewiss, nun, da sich der Prozess gegen die U-Bahn-Schläger von München dem Ende zuneigt. Auf einem Überwachungsvideo vom 20. Dezember 2007, das die Republik erschütterte, sind sie als schattenhafte Gestalten zu sehen, die durch den U-Bahn-Hof Arabellapark huschen und dort einen alten Mann fast umbringen. Die beiden sind kaum zu erkennen, wie Phantome der Angst.

Ihre Lebenswege nachzuvollziehen, erleichtert es, den Weg zur Tat zu begreifen - aber nicht, sie zu entschuldigen oder zu relativieren. In der Tat sieht das Gutachten des Münchner Jugendpsychiaters Franz Joseph Freisleder keine Umstände, welche die Schuld der jungen Männer an ihrem Verbrechen zur Tatzeit mildern könnten, weder psychische Krankheiten noch Alkoholgenuss. Sie haben gewusst, was sie taten - "die wollten mich umbringen", hat das Opfer, Hubert N., vor Gericht gesagt, "und warum eigentlich? Einfach so?" N. hatte die beiden ermahnt, in der U-Bahn nicht zu rauchen.

Da ist Serkan S., der heute 21-jährige Türke, der das Opfer zu Boden schlägt und sich seelenruhig die Schuhe zubindet, während sein Kumpel Spyridon L. den am Boden zusammengekrümmten Mann tritt. Serkan ist geboren in München, die Familie lebt anfangs in der Au. Der Vater ist Säufer, jähzornig und gewalttätig, die Mutter liebevoll und überfordert. Der Vater schlägt das Kind, die Mutter ist Trost, aber kein Schutz. Einmal bindet der Vater Serkans Füße an einen Stuhl und drischt mit einem Stock los, bis sie blau sind.

Doch die Trennung, die diverse Beratungsstellen der Mutter nahelegen, schafft sie nicht. Sie nimmt den Mann immer wieder auf. Es gibt in Serkans jungem Leben kein positives Vorbild. "Er hat", sagt Gutachter Freisleder, "am lebenden Modell gelernt." Schon im Alter von zehn Jahren hängt der Junge mit größeren Kindern ab, entgleitet der Mutter, setzt sich auf der Straße durch.

An dieser Familie prallt aller guter Wille ab. "Hilfeverfahren wegen Nichtmitwirkung eingestellt" - so lauten die amtlichen Einträge. Serkan soll in eine therapeutische Wohngruppe ziehen, er tut es nicht. Er kommt in ein Jugendheim, die Mutter holt ihn heraus. 2004 stiehlt er ein Moped und bricht in eine Wohnung ein. Im selben Jahr verletzt ihn seine Schwester bei einem Streit mit dem Küchenmesser, die Sehnen der rechten Hand sind durchtrennt: Serkan soll Fingerübungen machen, doch er lässt es bleiben, er kümmert sich nicht einmal um sich selbst. Er kann die Finger heute nicht ausstrecken.

Im März 2005 fallen er und ein Kumpan an einer U-Bahn-Station einen Mann an, treten ihn und nehmen ihm das Handy weg. Beinahe kommt A. in Haft, das Jugendgericht sieht eine "keine günstige Sozialprognose". 2005 notiert die Helferin: Serkan sei "extrem gewalttätig und hat eine geringe Frustrationstoleranz". Er drohe "abzurutschen ins kriminelle Milieu". Frau A. klagt, ihr Sohn schlage sie, manchmal müsse sie sich im Zimmer einsperren.

Serkan erhält noch einmal Bewährung. Er ist keiner der Fälle, bei denen sich die Ämter nicht kümmern. Sie bieten Hilfe an: Jugendhilfe, Bewährungshilfe. Türkischsprachige Beratung, Jugend-WG für Serkan, ambulante Erziehungshilfe. Weder Mutter noch Sohn erscheinen. Gerhard Stölzner, ein Bewährungshelfer, sagt vor Gericht: "Serkan nahm die Angebote nicht an. Er lebte in den Tag hinein." Der Junge lud Stölzner sogar zum Tee ein, lächelte freundlich - und ließ jedes Hilfsangebot abprallen. Stölzner glaubt heute: Die einzige Chance wäre die Überweisung in ein geschlossenes Heim gewesen - "aber das macht ja kaum noch ein Jugendgericht".

Bei Spyridon L., heute 18 Jahre alt, der beim Überfall in der U-Bahn den Kopf des Opfers trat wie ein Fußballer den Ball beim Elfmeter, sieht die Sache nur scheinbar besser aus. Den Richtern und Gutachtern schildert er die frühe Kindheit in Griechenland als heile Welt, und den Tränen nah sagt seine Mutter, Evangelina A.: "Der Spyri war immer so ein liebes Kind." Schaut man näher hin, bekommt das Bild Risse. Der Junge wurde einerseits verwöhnt, andererseits brutal gezüchtigt, jedenfalls nach dem Bericht der Jugendgerichtshilfe. Er lässt die Hausaufgaben liegen und geht spielen, der Vater prügelt ihn dafür mit dem Gürtel. Der Umzug nach München 2001 überfordert den Jungen. Mit 13 kifft er, hat dubiose Freunde, muss die achte Klasse Hauptschule wiederholen, aber er geht kaum noch hin. Der Vater soll ihm bei Hieben mit einem Holzstock die Hand gebrochen haben.

Spyridon zieht in eine Jugendpension. Und muss ausziehen wegen Drogengeschichten. Er kommt nach "Just M", in ein Heim der Jugendhilfe, dort streitet er mit Betreuern und tritt eine Tür ein. Die Mutter holt ihn heim, sie hält es nicht aus ohne ihn. Zuhause versteckt er Flaschen, trinkt, nimmt Drogen. Am Pasinger Bahnhof schlägt er einen Mann zusammen, er prügelt auf seine Eltern ein. Er träumt von einer Maurerlehre und hört nach drei Tagen auf dem Bau auf.

Beide Mütter sitzen fassungslos im Gericht und hören dem Schicksal ihrer eigenen Familien zu. Sie stehe zu ihrem Sohn, sagt Frau A. Die beiden Jungen sind Schatten auf dem Video vom U-Bahn-Überfall; sie gehen wie Schatten durchs Leben. Die erschreckende Ziellosigkeit und Dumpfheit ihrer Biographien ist kaum ein Beleg für Integrationsfehler oder Versagen der Behörden. Mag sein, dass die Sozialarbeiter hätten härter sein, Serkans Mutter das Sorgerecht entziehen müssen. Und doch geht es eher um die seelische Verwahrlosung am Rande der Gesellschaft und das Fehlen der Bereitschaft, sich helfen zu lassen. Die Jungen verpassten keine Gelegenheit, eine Gelegenheit zu verpassen. Sie hatten nichts außer der inneren Leere und zielloser Wut; es gab nicht einmal den Halt einer Jugendgang oder aufsässiges Selbstbewusstsein als Ghetto Kid. Es gab einfach nichts. Das macht den Fall der U-Bahn-Schläger so beklemmend.

Oktober 2007. Serkans Freundin Natascha bringt Samira zur Welt. Für einen Augenblick sieht es aus, als könne die große Leere, um die Serkans Leben kreist, einem Sinn weichen, und sei es der, es mit der Kleinen besser zu machen als der eigene Vater mit ihm. Ein paar Wochen später zieht er mit Spyridon ziellos durch den Tag, säuft, pöbelt in der U-Bahn - und trifft auf Hubert N.. Die Leere ist wieder da, größer denn je.

Im Herbst 2007 wird Spyridon L. in der Heckscher Klinik für Jugendpsychiatrie in München behandelt. Noch einmal scheinen die Wolken zu weichen, noch einmal erlebt die Familie ein normales Leben, ohne Drogen, Schläge, versteckte Wodkaflaschen. Evangelina A. sagt: "Ich war so glücklich und dachte: Ich habe mein Kind wieder." Doch das Kind kam nicht zurück. Kurz danach überfallen Spyridon und Serkan den alten Herrn in der U-Bahn-Station.

© SZ vom 28.06.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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