Münchner Seiten:Vielfältiges Durcheinander

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Integration ist mehr als die Addition der Dönerbuden in den deutschen Fußgängerzonen (Foto: Robert Haas)

Karl Stankiewitz streift durch das Bahnhofsviertel, den "einzigen Ort, wo München wirklich Weltstadt ist"

Von Jakob Wetzel

Es gibt Momente, die eine Stadt geradezu umkrempeln können, nach denen nur wenig so bleibt, wie es war. Für München kam einer dieser Momente 1840: In diesem Jahr fuhren erstmals Züge zwischen München und Augsburg hin und her, weitere Strecken folgten. Die Eisenbahn ließ ganze Wirtschaftszweige in München entstehen, erblühen oder zugrunde gehen, die Züge brachten Scharen von Zuwanderern, Gästen und Arbeitern in die Stadt. Und es gibt einen Ort, an dem das alles noch immer zu spüren ist, jene Gegend vorwiegend im Süden des Hauptbahnhofs, zwischen Stachus, Theresienwiese und Innenstadt-Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität: das Münchner Bahnhofsviertel.

Karl Stankiewitz widmet dieser Gegend jetzt ein eigenes Buch - und das ist schon deswegen bemerkenswert, weil er damit eine erstaunliche Lücke füllt. Es gibt Unmengen an Literatur über München, die Geschichte der Stadt und seiner Bezirke. Das Bahnhofsviertel aber kam bislang nur am Rande vor - wohl deswegen, weil es kein eigener Stadtbezirk ist, sondern zwischen Maxvorstadt und Ludwigsvorstadt, zwischen der Altstadt und dem Westend liegt.

Und so liefert Stankiewitz eine erste Bestandsaufnahme dieser Gegend; er zeichnet nach, wie sie zu dem wurde, was sie ist. Dabei schreibt er nicht als nüchterner Historiker, der Zusammenhänge exakt analysiert, sondern als Journalist, der lange als Reporter unter anderem für die Süddeutsche Zeitung gearbeitet hat, der vieles eher erspürt als belegt und der das Bahnhofsviertel über weite Strecken als eine Art unübersichtlichen Zustand charakterisiert. Immer wieder lässt er die Bewohner des Viertels selbst zu Wort kommen. Und pointiert greift er Details und Anekdoten heraus - etwa die Auftritte des evangelischen Predigers Adolf Sommerauer im Bayerischen Rundfunk, der in den Sechzigerjahren zum "Seelsorger der Nation" aufstieg, oder auch eine Episode über Heinrich Mann, der sich 1911 gegen eine Aufführung an den Kammerspielen wehrte, die damals noch an der Augustenstraße logierten. Der Schriftsteller störte sich am damaligen Namen des Theaters: "Zum großen Wurstel". Seine stärksten Momente hat das Buch dann, wenn Stankiewitz den Einfluss des Bahnhofs erlebbar macht. Stankiewitz und seine Gesprächspartner beschreiben diese eigenwillige Stadtlandschaft mal als "kleine internationale Ansiedlung mit großem Gewerbepark", mal als "Klein-Istanbul" und ein "Mekka für Migranten", als den "einzigen Ort, wo München wirklich Weltstadt ist" oder auch als einen Ort mit Straßenzügen, die so wild seien, dass sie "kein Gentrifizierer in den Griff" bekommt. Stankiewitz erzählt davon, wie seit den Sechzigerjahren Gastarbeiter in die wegen der Bombenschäden noch immer von Baracken und Containern dominierten Straßenzüge zogen, wo die Mieten günstig waren.

Er berichtet von Imbissbuden und Billig-Shops in Behelfsbauten, von arabischen Restaurants an der Landwehrstraße, von Casinos an der Schillerstraße und türkischen Gemüseläden an der Goethestraße, von Erotik-Geschäften an der Dachauer Straße und von Elektrofachgeschäften, deren Geschichte er in diesem Viertel bis zur Werkstatt von Carl August Steinheil an der Schwanthalerstraße 31 zurückführt, der unter anderem den Morse-Telegrafen erfunden hat. Und er erzählt davon, wie sich Hoteliers und Geschäftsleute darum bemühen, diesem lange verrufenen Viertel einen besseren Leumund zu verschaffen.

Freilich, nicht immer sucht Stankiewitz dabei den Zusammenhang mit dem Bahnhof; häufig notiert er schlicht, was er bei seinen Streifzügen findet - etwa wenn er von der Geschichte des Justizpalastes erzählt, von revolutionären Sitzungen in Bierhallen oder von der Ansiedlung diverser Kinos. Hier steht eins neben dem anderen, was Stankiewitz noch verstärkt, indem er seinen Text in Kapitel verpackt, die hochfliegende Titel tragen wie "Bierviertel", "Kinoviertel" oder "Kirchenviertel" - letzteres alleine wegen der Paulskirche an der Theresienwiese. Dass 1960 ein Flugzeug den Kirchturm dieser Kirche streifte und auf eine Trambahn stürzte, macht die Gegend hier bereits zum "Katastrophenviertel" - neben einem Brand im Reifenlager der Firma Metzeler auf der Schwanthalerhöhe und dem Oktoberfest-Attentat, beides außerhalb des Bahnhofsviertels.

So hinterlässt das Buch den Eindruck einer großen Vielfalt, aber auch eines gewissen Durcheinanders. Wobei, ob beabsichtigt oder nicht: Damit hat Stankiewitz das Bahnhofsviertel wohl tatsächlich ganz gut getroffen.

Karl Stankiewitz: Das Bahnhofsviertel. Wo München wirklich Weltstadt ist, Erfurt: Sutton-Verlag, 19,99 Euro.

© SZ vom 27.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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