Mordprozess:"Sie hat mehr geschrien als sonst"

Lesezeit: 3 min

Giovanni S. soll seine sechs Wochen alte Tochter zu Tode geschüttelt haben. Nun steht er vor Gericht, und seine Frau erzählt von jenem verhängnisvollen Tag vor einem Jahr

Von Susi Wimmer, München

Es ist ein erschütternder Moment in dem Prozess, als Verteidiger Peter Guttmann der Zeugin eine blonde Kinderspiel-Puppe in die Arme legt. Die Frau soll zeigen, wie ihr Ehemann die kleine Tochter immer im Arm gehalten hat. Und wie am Tag des Unheils das Ehepaar gemeinsam das sechs Wochen alte Mädchen in dieser Position "leicht gerüttelt" haben soll, so nennt es die Mutter. An jenem Tag im Oktober 2017 hörte die kleine Alessia auf zu atmen. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt davon, dass der Kindsvater Giovanni S. das schreiende Mädchen zu heftig geschüttelt hat; sie hat Anklage gegen ihn wegen Mordes erhoben. Die Verteidigung spricht von einem Justizirrtum.

"Es ist für mich schwer, den richtigen Einstieg zu finden" - selbst Michael Höhne, den Vorsitzenden der ersten großen Schwurgerichtskammer am Landgericht München I, lässt die Situation nicht kalt: Vor ihm sitzt Alessias Mutter. Die Ärzte konnten vor gut einem Jahr das Leben des Mädchens nicht mehr retten. Die Zeugin soll von ihrem Mann Giovanni erzählen, der seit mehr als einem Jahr in Haft und nun auf der Anklagebank sitzt, von Alessia und dem verzweifelten Versuch der Eltern, sie an jenem Tag wiederzubeleben, und von dem Augenblick wenige Stunden später, als die Ärzte dem Ehepaar erklärten, dass man wegen der irreversiblen Hirnschäden bei Alessia überlegen müsse, die lebenserhaltenden Maßnahmen einzustellen. "Wir haben Alessias eigenes kleines Herz entscheiden lassen", sagt die Mutter. Als die Maschinen abgeschaltet wurden, hörte Alessias Herz auf zu schlagen.

Alessia, so erzählt die 29-jährige Mutter, sei ihrer beider Wunschkind gewesen. Sie wog lediglich 2300 Gramm, obwohl sie zum errechneten Geburtstermin per Kaiserschnitt geholt wurde. Doch die Kleine legte schnell an Gewicht zu, die Untersuchungstermine bei der Kinderärztin ergaben keine Auffälligkeiten. Bis zu dem Wochenende vom 21. Oktober 2017. "Sie hat mehr geschrien als sonst, wollte immer auf dem Arm getragen werden", erzählt die 29-Jährige. Am Sonntag hätten sich ihr Mann und sie mit dem Beruhigen und Tragen abgewechselt. Sie habe die Kleine gestillt, dann habe das Paar zu Mittag gegessen. Da sie den Eindruck hatte, die immer noch schreiende Alessia habe zu wenig getrunken, wollte sie nur schnell zur Toilette und dann das Mädchen erneut stillen.

Giovanni S., 32 Jahre alt, blieb mit der Tochter auf dem Arm im Wohnzimmer zurück. Staatsanwalt Laurent Lafleur geht davon aus, dass der mit dem brüllenden Kind überforderte Vater diesen Moment heimtückisch ausgenutzt und Alessia heftig geschüttelt habe. Die Mutter selbst erzählt, dass sie gerade im Bad beim Händewaschen gewesen sei, als ihr Mann immer wieder "Ale, respira!" gerufen habe, also "Ale, atme!". Sie sei aus dem Bad gerannt und habe ihren Mann in der Küche stehen sehen, wie er der leblos in seinem Arm hängenden Alessia Leitungswasser auf Stirn und Handgelenke träufelte. "Der Körper war schlaff und ihre Augen geschlossen", erzählt die Zeugin. Dann hätten sie beide an Alessia leicht gerüttelt, "wir haben sie nicht geschüttelt", und schließlich die Notrufnummer gewählt. Via Handy wies man sie an, das Kind auf den Bauch zu legen und zwischen die Schulterblätter zu klopfen. Dann sollten sie die Kleine beatmen. "Ich habe ihren Kopf nach hinten gestreckt, Giovanni in sie hinein geatmet." Noch während der Reanimation klingelte es an der Haustüre und Kinder- sowie Neugeborenen-Notarzt vom benachbarten Klinikum Großhadern standen vor der Türe.

Giovanni S. verfolgt den Prozess ohne äußere Emotion. Eine Begutachtung durch Psychiater Cornelis Stadtland lehnte er ab. Seine Ehefrau beschreibt ihn als "Quasselstrippe", aber als der blasse, untersetzte Mann mit der schwarzen Brille etwas aus seinem Leben erzählen soll, muss ihm Richter Höhne jedes Wort aus der Nas e ziehen. Der aus einem Dorf bei Neapel stammende Italiener kam 2005 nach Deutschland, um sich "eine Zukunft aufzubauen", wie er erzählt. Er arbeitete in italienischen Lokalen als Schankkellner, Tellerwäscher und Hilfskoch, lernte 2009 seine spätere Frau kennen und zog mit ihr kurz vor Alessias Geburt in eine größere Wohnung nach Großhadern. Den Familienunterhalt bestritt er alleine mit einem Nettoeinkommen von 1600 Euro. "Er ist ein liebevoller und geduldiger Mann und war als Vater sehr vorsichtig, weil er Angst hatte, Alessia weh zu tun, weil sie so zierlich war", sagt seine Ehefrau.

"Er ist zutiefst traumatisiert", sagen die Verteidiger Guttmann und Antonio Agosta. Sie haben, mangels Geld, "auf einer Betteltour" durch ganz Deutschland "vier namhafte Gutachter in München, Magdeburg und Homburg" gefunden, die den Erkenntnissen aus dem rechtsmedizinischem Gutachten widersprechen. Sie verweisen darauf, dass bei dem Mädchen eventuell eine Vorerkrankung vorlag und auch ein plötzlicher Kindstod infrage komme. "Wenn Zweifel an einem Schütteltrauma dargestellt werden können, dann ist der Angeklagte frei zu sprechen", sagt Guttmann.

© SZ vom 16.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: