Mein Kiosk:Schlafwandler in Paris

Von Joseph Hanimann

Unter den Pariser Zeitungskiosken, die oft neben den schmucken Jugendstil-Métroeingängen von Hector Guimard stehen, glänzt einer besonders schön. Er steht am Eingang zur Station Palais Royal, zwischen Louvre und Comédie Française. Statt Guimards metallenen Blumenschnörkeln leuchten dort bunte Glaskugeln, mit denen der Künstler Jean-Michel Othoniel im Jahr 2000 zum hundertjährigen Bestehen der Pariser Métro den U-Bahn-Eingang ausstattete. Lesen und Fortbewegung gehören zusammen. Kiosk der Schlafwandler, "Kiosque des Noctambules", heißt jener Ort. Und mit schlafwandlerischer Sicherheit kann man dort - bisher noch - seine Lieblingszeitung vom Ständer schnappen. Der Händler widersetzt sich der Tendenz, im Angebot Zeitungen durch Miniatur-Eiffeltürme und Souvenirs für Touristen zu ersetzen. Papier gibt es dort ausschließlich zu kaufen für die immer weniger werdenden Franzosen, denen das Rascheln der Seiten, das Rühren im "Petit Noir" an der Theke und das Treiben vor dem Café unverzichtbar ist für ein wahres Großstadtgefühl. Damit ist der Händler Akteur eines kleinen Welttheaters. Manchmal hängt er Eigenkommentare in die Auslage. "Panama Papier bringt die Welt ins Wanken", stand da neulich.

© SZ vom 21.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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