"Maß für Maß" an den Kammerspielen:Die Shakespeare-Slideshow

Lesezeit: 4 min

Misslungene Premiere: Stefan Pucher verlegt an den Münchner Kammerspielen die Justizkomödie "Maß für Maß" in die Fetischszene.

Ch. Schmidt

Ein feines Netzmuster überzieht den Eisernen Vorhang in den Münchner Kammerspielen - es sieht aus wie gesplittertes Glas. Später schneiden geometrische Flächen von den Flanken in die Bühne hinein, spitze Glasscherben, die sich genauso wenig zu einem Ganzen fügen wie Stefan Puchers Inszenierung von Shakespeares "Maß für Maß".

Er sagt: Quäl mich! Und sie schüttelt den Kopf. Brigitte Hobmeier als Isabella. (Foto: Foto: Arno Declair/oh)

Zweidimensional wie das Bühnenbild bleiben die Figuren, und das nicht nur, weil sie fast immer parallel zum Publikum aufgestellt sind. Jedes Bild wirkt wie geronnen, als seien die Darsteller in einer endgültigen Pose erstarrt. Der entscheidende Moment ihrer Geschichte soll festgehalten werden. Und man meint förmlich das Blitzlicht zu sehen, das ihr Bild in die Ewigkeit brennt.

Alle Inszenierungen von Stefan Pucher speisen sich aus der Trauer der Vollendung. Die Augen schmerzen, der Blick ist müde, denn man hat schon zu viel gesehen, um sich noch wundern zu können. Da ist nur noch das aschige Gefühl, das aufsteigt, wenn sich überall das wiederkehrende Muster zeigt. So kommen die Figuren auf die Bühne. Sie haben ihre Unschuld verloren, denn sie wissen, dass sie durchschaut sind. Schuldbewusst kehren sie zurück in ihr Drama wie an den Ort eines Verbrechens und schlüpfen in die Kreidemarkierungen am Tatort.

Noch einmal stellen sie ihr Leben nach, aber es ist nur noch zur Dokumentation. Die Leidenschaften, die sie einst befeuerten, können sie nicht wieder entflammen; das Wissen darum, wie ihre Sache ausgeht, hat alle Gefühle erstickt. Pucher nimmt sich Theaterstücke vor wie abgelegte Prozessakten aus dem Archiv, und was wir sehen, sind kalte Wiederaufnahmeverfahren, die der Regisseur im Kopf durchspielt.

In der vergangenen Spielzeit, als Pucher Shakespeares "Sturm" inszeniert hat, ging das wundersam auf. Die Aufführung war ein rauschhafter Fiebertrip und ein bunt getarnter Klagegesang auf die entzauberte Welt. Nun versucht er, mit demselben Team - Barbara Ehnes für die Bühne, Chris Kondek für die Videos -und derselben Pop-Ästhetik daran anzuknüpfen, und man weiß nicht: Ist er nicht weit genug gekommen, oder ist er schon zu weit über das Stück hinaus? So oder so lässt einen das Geschehen draußen, als wären wir von ihm durch eine Glasscheibe getrennt wie Voyeure.

Diesseits der unsichtbaren Wand, auf unserer Seite, befindet sich nur der Herzog Vincentio. Er kommentiert gewissermaßen eine animierte Slideshow und klickt uns von Bild zu Bild. Was wir sehen, sind kompromittierende Schnappschüsse aus dem Bordell, Paparazzi-Aufnahmen, wie man sie macht, um jemanden damit zu erpressen. Shakespeares Vienna kann man hier getrost mit Gomorrha übersetzen.

Vincentio, bei Thomas Schmauser ein ausgebranntes Houellebecqsches Nachtwesen, hat die Stadt verlassen, und im Video sieht man warum: Zu viele Sex-Partys. Lustsklavinnen und honorige Herren in Latex und Leder lassen in einem Fetisch-Club die Korken knallen. Vincentio braucht eine kreative Pause und setzt als Stellvertreter den Tugendterroristen Angelo ein, der mit scharfen Gesetzen gegen die allgemeine Zuchtlosigkeit vorgeht und jeden hinrichten lässt, der sich nicht beugt.

Zum Tode verurteilt wird auch Claudio, der seine Verlobte vor der Hochzeit geschwängert hat. Splitternackt wird er an einer langen Kette abgeführt. Die Kette hängt an einem Hundehalsband, und jedes Mal, wenn der bucklige Kerkermeister daran zieht, erschauert Lasse Myhrs Claudio leise vor Lust. Neben ihm skandiert eine schwarze Domina die Worte "Liberté, Egalité, Fraternité, Justice"; es geht offenkundig nicht in den Kerker, sondern in den SM-Keller.

Dort wird Claudio, nun im babyblauen Gummistrampler, auf eine Arztliege geschnallt. Seine Schwester Isabella stellt die Folterbank senkrecht oder dreht sie wie ein Teufelsrad im Kreis. Endlich kann sie den Bruder ein bisschen quälen, den sie zuvor lüstern betatschte. Denn Claudio ist das obskure Objekt ihrer Inzestbegierde. Und sie war selbst schon das Opfer auf ebendieser Liege. Angelo ließ sie per Fernsteuerung aus dem Boden hochfahren, als Isabella bei ihm um Gnade flehte für ihren Bruder.

Bummeln auf der Porno-Messe

Brigitte Hobmeier spielt sie, mit ondulierter Hochsteckfrisur und im strengen Kostüm zu Lackleder-Stilettos, als kühle, Porzellan-Teint und Bondage-Mieder gewordene Domina-Phantasie. Wenn sie ihre Hände vor ihren Schoß hält, weiß man nicht, ob es ist, um sich zu schützen, oder um das Ziel einzukreisen, und wenn sie zitternd nach Atem ringt, bleibt offen, ob sie damit Empörung zum Ausdruck bringt oder Erregung. Das Leben ihres Bruders kann sie nur retten, indem sie Angelo sexuell zu Willen ist. Wenn sie mit ihm schläft, wird Claudio verschont.

Bei Christoph Luser ahnt man vom ersten Moment an, dass dieser falsche Moralapostel mit den Razzien im Rotlichtmilieu nur seine Bestrafungsphantasien auslebt. Ein bisschen erinnert die lange Haarsträhne, die ihm ins Gesicht fällt, an Blixa Bargeld, und mit seinen Schaftstiefeln zum Nadelstreifenanzug, dem hautengen Fledermaus-Capé und seinem perversen Dauergrinsen lässt Luser keinen Zweifel aufkommen, dass er in Isabella die ideale Partnerin für seine sadomasochistischen Spiele gefunden hat.

Das ist zwar auch bei Shakespeare nicht viel anders, doch im Stück zeigt sich erst nach und nach, dass das Verhalten in dieser ruchlosen Justizkomödie einzig und allein von sexuellen Vorlieben bestimmt wird; bei Pucher ist das sofort klar. Seine Bilder sind so explizit, dass sie die Handlung außer Kraft setzen.

Der Herzog zum Beispiel ist ein Spanner. Als Mönch verkleidet, schleicht er sich in die Stadt zurück, statt einer Kutte trägt er einen pailettenbesetzten Kapuzenpullover. Um Angelo zu überführen, fädelt er eine Intrige ein, und läuft als Moderator der großen Schluss-Sause, in der - Maß für Maß - jeder seiner gerechten Strafe zugeführt wird, zu Show-Form auf: "So, Freunde, jetzt wird die Luft dünn", sagt er in Jens Roselts freier Übersetzung, die vor allem frei ist von Kunst. Und gibt sich als Sadist zu erkennen, wenn er Angelo mit einer Hundepfeife ("Mach Platz!") zwingt, seine Marianna von hinten zu bespringen.

Wie dressiert wirken alle aus dem unterforderten Ensemble, von denen die meisten nur Chargenrollen apportieren. Pucher hat sein Konzept wie eine Gummimaske über das Stück gestülpt. Darüber kann auch das perfekte Artwork nicht hinwegtäuschen (die hinreißenden Kostüme sind von Annabella Witt). Der trostlos-lustig aufgemotzte Abend fördert nicht mehr Erkenntnisse über menschliche Abgründe zutage als jeder Bummel über eine Porno-Messe. Fasching steht ja vor der Tür, und da trägt man die Sexualmoral wieder etwas lockerer unterm Kostüm.

© SZ vom 19.01.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: