Mark Rothko in München:Der verborgene Gott

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"Die Kunst von allem schmückenden Beiwerk zu befreien", war die Mission von Mark Rothko. Er ist einer der bedeutensten amerikanischen Künstler des 20. Jahrhunderts. Eine Retrospektive in der Hypo-Kunsthalle in München zeigt nun seine Werke.

Willibald Sauerländer

Mark Rothko gehört zu jenen amerikanischen Malern, in deren Schaffen die "Klassische Moderne", als sie in Europa schon epigonal geworden war, noch einmal eine letzte äußerste Steigerung erfuhr.

Längst ist dieser explosive Vorgang zur Kunstgeschichte geworden, hat man ihn auf eingängige Formeln festgelegt. Man spricht vom "Abstract Expressionism", man hat darüber gewitzelt, dass New York Paris die moderne Kunst gestohlen habe, und aus der Mitte der von ihrem kreativen Zorn berauschten Künstler erklang die taumelnde Rede: "Das Erhabene ist jetzt."

All das ging schnell vorüber. Schon bald nach 1969 riefen Kritiker das Ende der Avantgarde aus, und die Pop Art bereitete diesem letzten, furiosen Aufscheinen des "Geistigen in der Kunst" rasch ein triviales Ende.

Im Rückblick stellt sich der Aufstieg dieser großen amerikanischen Maler mit Rothko und Newman an ihrer Spitze als Teil jener emphatischen Rettung der europäischen Moderne durch deren Verpflanzung an die amerikanische "East Coast" dar. Was in Paris, München, Mailand um 1900 begonnen hatte, expandierte im Werk der amerikanischen Maler zu einer Freiheit, welche die Enge der Alten Welt niemals zugelassen hätte.

Die Bilder, die damals in den Ateliers der "Zornigen" wie Rothko, Newman und Pollock entstanden, haben auch nach einem halben Jahrhundert ihre Leuchtkraft unvermindert behalten. Kein Warhol, keine Pop Art, erst recht keine Postmoderne und kein Neorealismus haben sie verdunkelt. Ihre Leuchtkraft ist ungebrochen.

Jetzt bietet eine Retrospektive in der Kunsthalle der Münchner Hypo-Kulturstiftung die Gelegenheit, Rothko wieder zu begegnen. Wichtiger noch: Diese Ausstellung ist eine Aufforderung dazu, nach dem historischen Ort und dem philosophischen Sinn einer Malerei zu fragen, welche sich noch einmal auf die Transzendenz eingelassen hatte.

Heute, da fast auf religiöse Weise über die Grenzen zwischen bildlicher Information und dem Bild als Kunst gerungen wird, stellt diese Retrospektive eine ästhetische und spirituelle Gewissensfrage. Bewundernswert ist, was zusammenkam: 113 Arbeiten - Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen. In den sympathisch spröden Räumen von Herzog & de Meuron kommen sie auf grau getönten Wänden in chronologischer Folge mit einprägsamer Wirkung zur Ruhe.

Die Schau bietet einen umfassenden Überblick über Rothkos Werk von den verfremdeten, bizarren Manhattan-Bildern aus den dreißiger Jahren, die so gar nichts vom Optimismus des New Deal ausstrahlen, über die Beschäftigung mit oft erschreckenden Themen aus Mythen und Religion in der seelischen Not von Krieg und Holocaust bis zu den biomorphen Kompositionen nach 1945, die auf eine unironisch grübelnde Weise vom Surrealismus inspiriert scheinen.

In Raum 5 wird man staunender Zeuge des elementaren Durchbruchs von 1947/48. Die Gegenstände verschwinden. Übrig bleiben nur noch die atmenden Bewegungen der Farben durch die imaginären Räume im Inneren der Bilder.

Übrig bleiben? Nein! Das ist die falsche Vokabel, weil sie auf Verminderung und Abstraktion deutet. Rothko aber hat sich immer gegen die Entmündigung seiner Bilder als "abstrakt" verwahrt. Für den Plato-Kenner war das Verschwinden der Gegenstände Essentialisierung. "Die Kunst von allem schmückenden Beiwerk zu befreien", war seine Mission.

Das erste Bild der Ausstellung ist das bekannte Selbstbildnis von 1936. Wie in einem Traum taucht die Gestalt aus einem diffusen Raum auf. Aber ist das richtig? In diesem Selbstporträt ist der Maler absent und präsent zugleich. Die Augen hinter der dunklen Brille sind schwarze Höhlen, aber der rote Mund ist von brutaler Sinnlichkeit, und die mächtige Stirn verrät den Leser philosophischer Texte von den Griechen bis zu Nietzsche.

Von Nietzsche hat Rothko die melodramatische Formel von der "tragischen Emotionalität" geborgt. Sie könnte Chiffre für dieses Porträt sein.

"Da wir Künstler uns ständig im Reich der Phantasie bewegen, wissen wir, wie lebendig die Träume erscheinen können", schrieb Rothko in einem Text mit dem ambivalenten Titel "Das Dilemma des Künstlers". Versunkenheit, Entrückung und dann doch farbpathetische, "plastische" Statements, solche Gegensätze bezeichnen die innere Spannung dieser ungewöhnlichen Malerei.

Oft sucht er das Dunkel. Will er Manhattan malen, steigt er in die Subway Stations hinab, wo die Menschen auf Treppen, zwischen Pfeilern und Gittern dahinhuschen wie in einem Käfig. Hält er bei den Sagen der Alten an, sucht er sich eine Gestalt wie den blinden Seher Teiresias, der die Sprache der Vögel verstand. Auf einem anderen Gemälde erinnert er an die Äolsharfe, die Klänge der Saiten im Wind.

Die Konsonanz zwischen ungegenständlicher Malerei und Musik wird vernehmlich. Vergessen wir nicht: Rothko pflegte, in den Anblick seiner eigenen Bilder versunken, Musik zu hören.

Die Äolsharfe datiert von 1946. Einen Schritt weiter, und wir sind bei den "Multiforms" angekommen. Die "tragische Emotionalität" wird nun allein den Farben anvertraut, die sich bewegen, überlagern, übertönen, stoßen. Das war 1948. Rothko ist 45 Jahre alt, jenseits der Mitte des Lebens. Er war ein Künstler des langen Weges, hatte ein wartendes, antichronometrisches Verhältnis zur Zeit.

Nun aber hatte er sich gefunden. Dieses Sich-Finden war eine fast religiöse Abkehr von der äußeren Welt. Durch diese Abkehr gewannen seine Bilder jenen Sog, der bald weltweites Staunen erregen sollte und einen Nerv der spirituellen Sehnsüchte in den fünfziger Jahren traf.

In immer neuen Steigerungen werden nun großformatige Bilder folgen, welche Epiphanien von Farben sind. Andere Maler haben sich der Monochromie verschrieben. Rothko erfüllt seine Bilder mit dem ganzen Farbkreis: mit allen Brechungen von Rot, Orange und Purpur, aber auch mit dem gefährlichen, stechenden Gelb, selten nur mit dem unspirituellen Grün, aber gerne mit Braun- und Pflaumentönen, am liebsten wohl mit dem dunklen, nächtigen Blau, der Farbe der Romantik.

Die Ränder seiner Bilder zeigen eine neutrale, verfestigte Farbigkeit. Sie bilden die Grundlage. Im Inneren der Bilder bettet Rothko die Farben übereinander, lässt sie aus der Tiefe aufleuchten, in Gründe einsinken. Lastend legen sich schwarze Kissen auf die Bunttöne wie Ankündigungen von Auslöschung und Tod.

Als Betrachter wird man in diese Bilder hineingesogen und beim längeren Hinschauen selbst aus der realen Welt entrückt. Das ist eine Erfahrung, wie man sie im Religiösen aus den Texten der Mystiker kennt.

Nichts wäre verkürzender, als Rothko als einen brillanten Koloristen zu loben. Nein, nichts davon. Sein Malen ist ein Nachsinnen über das Wesen, die Symbolik, die Tragik der Farben. Ist es Zufall, dass man sich bei ihrem Anblick an Worte aus Goethes Farbenlehre erinnert?

"Gewicht und Gegengewicht. Mehr und Weniger, ein Wirken und Widerstreben, ein Tun und Leiden, Vordringendes und Zurückhaltendes." Wir wollen den Vergleich nicht übertreiben. Aber offensichtlich ist: Nie geht es diesem Maler um die bloße optische Chromatik, sondern immer um die Ergründung der Farben.

Werden die Bilder gegen Ende dunkler - am Schluss der Ausstellung gibt es einen intensiven hermetischen Raum -, meint man, die theologische Rede vom "Deus absconditus", von der "Verborgenheit Gottes" zu vernehmen. Nun wird es unübersehbar: Diese Epiphanien von Farben sind eine Gratwanderung zwischen Kunst und Philosophie, Kunst und Transzendenz, ja sogar Kunst und Religion.

Darin liegt ihre bestürzende Schönheit wie die Versuchung ihrer metaphysischen Theatralität. Man möchte es bei den Assoziationen des hochsensiblen Michel Butor belassen können, der die Farbbänder Rothkos mit dem Leuchten extraterrestrischer Farben verglich, welche Geologen im Gestein eines Meteors beobachtet hatten. Aber ach, das geht nicht.

Als 1960 die Pop Art die New Yorker Szene betrat, schrieen Rothko und andere Zornige von 1950 tief verwundet auf. Sie spürten, dass ihr ureigenstes Anliegen, die Kunst als das ganz Andere - das Transzendierende - dem schlechten Alltag entgegenzustellen, im Scheitern begriffen war.

Tatsächlich hatten Warhol und die Popkünstler die Publicity auf ihrer Seite. Damals ist, mit Beginn des Medienzeitalters, etwas zerbrochen, was nie mehr zurückzuholen war. Es begann die Allgegenwart der untransparenten Bilder. Der Glaube, dass Kunst für das Absolute einstehen könnte, hielt nicht mehr stand. So ist der Blick auf die Rothko-Retrospektive auch ein Blick auf eine verlorene utopische Dimension von Kunst.

Aber man mache sich nichts vor. Schon in Rothkos Tagen war das Spiel der Malerei mit dem Mystischen und Transzendenten ein ambivalentes Unterfangen, die Epiphanie immer vom Absturz in die Theatralik bedroht. Gerhard Richter, eigentlich ein Bewunderer seines Kollegen, erzählte von einer Rothko-Schau: "Ich erwartete viel, aber dann war es bizarr wie in einer Kirche. Man war einem Mysterium näher als der Malerei."

Ist das zu nüchtern? Vielleicht trifft es das Dilemma des Künstlers Rothko, der eine Art agnostischer Mystiker war.

Heute könnte der Besuch einer Rothko-Ausstellung dennoch eine sensibilisierende Erfahrung sein. In optisch hastiger Zeit bieten Rothkos "Epiphanien" die schwierige Chance zum langsamen Sehen.

"Mark Rothko. Retrospektive", Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München. Bis 27. April. Vom 16. Mai an in der Hamburger Kunsthalle. Katalog (Hirmer) 39,90 Euro. Info: Tel. 089 / 22 44 12

© SZ vom 08.02.2008/ngh - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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