Ludwig Thomas 150. Geburtstag:Ist der Ruf erst ruiniert, lobt sich's nicht mehr ungeniert

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SZ-Leser diskutieren, in wie weit die anonymen antisemitischen Hetzschriften des Autors dessen literarisches Lebenswerk beflecken

"Der Hetzer vom Tegernsee" vom 14./15. Januar über Ludwig Thoma und dessen antisemitische Publikationen:

Heikles, aber auch Entlastendes

Hans Kratzers Artikel über Ludwig Thoma als Beiträger zum Miesbacher Anzeiger bedarf mehrerer Ergänzungen und Richtigstellungen. Ich bin dazu umso eher befugt, als ich die Edition des Miesbacher Anzeigers in den 1980er Jahren vorbereitet habe - anhand von Richard Lemps unersetzlichem Verzeichnis. Zwei Jahre dauerten die Recherchen bei den deutschen öffentlichen Bibliotheken; in keiner gab es ein vollständiges Exemplar der Jahrgänge 1920/21. Als mir alle Beiträge vorlagen, erkannte ich, dass ich als Literarhistoriker nicht das Fachwissen hatte, das hier erforderlich war. Daher fragte ich Wilhelm Volkert, meinen Regensburger Kollegen, der das Fach Bayerische Geschichte vertrat; er zögerte, lieferte dann aber eine in jeder Hinsicht vorbildliche Edition der heiklen Texte.

So konnte ich selber darauf zurückgreifen, als ich zum Beispiel Thomas letzten großen, postum erschienenen Roman "Der Ruepp" historisch-kritisch edierte und kommentierte - als einen Band innerhalb der ebenfalls historisch-kritischen, von mir und anderen Kennern einzeln herausgegebenen Werke in der Serie Piper. Insofern trifft die Behauptung, es gebe "keine kritische Gesamtausgabe von Thomas Werken", nicht zu. Alle wichtigen und charakteristischen Titel sind in Einzelbänden erschienen und mit allen Mitteln der philologisch-historischen Methode erläutert. Die Auflagen sind weit höher als eine vielbändige und teure Sammelausgabe sie erreichen könnte.

Auch sämtliche Gedichte liegen vor - mit Textgenese und exzessivem Kommentar - in Anna Dillers Monumental-Edition: "Ludwig Thomas Versdichtungen", Bd. 1-3, 1743 Seiten, Allitera Verlag München 2014. Von diesen 708 Gedichten (das Corpus dürfte damit erschöpft sein) ist ein einziges antisemischen Inhalts - die 16 Zeilen im Miesbacher Anzeiger vom 6.4.1921 unter dem Titel "Berliner Weh-Juden"; Thoma polemisierte hier gegen die von der Reichsregierung geforderte Auflösung der paramilitärischen Verbände in Bayern und Süddeutschland.

Dass Thoma im Miesbacher Anzeiger auch selbst- und zeitkritische Artikel drucken ließ, muss festgehalten werden. So korrigierte er zum Beispiel seine eigenen Ansichten, als er den endlich erschienen Schlussband von Bismarcks Memoiren vorstellte ("Das Testament Bismarcks", am 19.12.1920). Ähnlich sachbezogen waren andere Besprechungen von Quellen-Editionen ("Die Dokumente" und "Die Enthüllungen", in Nr. 1493 und 1494, 15. und 16.1.1921).

In Thomas wirklicher Dichtung gibt es keinen Antisemitismus; das Gegenteil ist der Fall. So prangerte er in der Komödie "Das Säuglingsheim" (1913) den historisch nachprüfbaren Antisemitismus der bayerischen Ministerialbürokratie an; das Stück ist heute weitgehend unbeachtet (aber in Band 1300 der Serie-Piper-Ausgabe des französischen Germanisten Jean Dewitz greifbar). Thomas ungeliebter Kollege Josef Ruederer nannte ihn deshalb einen "getreuen Judenknecht". Ich verweise auf meinen Aufsatz "Ludwig Thoma. Philosemitismus - Antisemitismus" im Jahrbuch 2012 der Freunde der Monacensia in München. Prof. Dr. Bernhard Gajek, Lappersdorf

Polt-Matinee in Rottach

Man reibt sich schon ein wenig verwundert die Augen, wenn man in Sachen Ludwig Thoma in der SZ schwarz auf weiß liest: "Auch sein 150. Geburtstag (21. Januar 2017) wird ohne große Würdigungen begangen." Da scheint man in der Redaktion ja Essentielles verschlafen zu haben: Zum einen findet am Freitag, 20. Januar, im Münchner Hildebrandhaus ein Symposium unter der Regie des Instituts für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Monacensia statt ("Bodenständig und abgründig - Die Selbstinszenierungen des Ludwig Thoma"), zum anderen trifft sich die Crème de la Crème der Thoma-Forschung tags darauf in Tegernsee zu einem ganztägigen wissenschaftlichen Kolloquium unter dem Titel "Enfant terrible und Bayerndichter". In beiden Fällen wird es um die historische, literarische und publizistische "Vermessung" des berühmten Autors gehen.

Doch damit nicht genug: Eine Matinee mit Gerhard Polt im Rottacher Seeforum wird am Sonntag, 22. Januar, den Schlussakkord im Rahmen der kritischen Würdigung des populären Dichters, Schriftstellers und Journalisten setzen (Beginn: 11 Uhr). Polt, der bekannte Autor und Kabarettist, will in seiner Funktion als Träger der Thoma-Medaille zum Wert der 1990 von der Stadt München abrupt abgeschafften Auszeichnung Position beziehen. Darüber hinaus wird ein renommierter Theater-Macher als Überraschungsgast zur Inszenierungsfähigkeit der einst höchst erfolgreichen Thoma-Stücke auf den Bühnen der Gegenwart sprechen.

Dass sich auch die Gemeinden Dachau und Oberammergau um eine adäquate Hommage für "ihre" Galionsfigur kümmern, darf gleichfalls nicht unter den Tisch fallen. Franz-Josef Rigo, Bad Wiessee

Leichtfertige Etikettierung

Weniger der Artikel selbst als vielmehr die Überschrift "Der Hetzer vom Tegernsee" schmerzen. Die Nachgeborenen machen es sich immer leicht, Werturteile über Menschen zu fällen, die unter völlig anderen Zeitumständen lebten. Der zitierte "Schriftsteller" Erich Mühsam war einer der anarchistisch-kommunistischen Politaktivisten, die damals nach dem Ersten Weltkrieg ihr Unwesen in Bayern trieben und die nur mit der heute wohlfeilen Vokabel "linksradikal" zu bezeichnen sind. Dem gegenüber gestellt, erscheint der "rechtsradikale" Thoma gleich in einem anderen Licht. Können wir demnächst unter der Überschrift "Der Judenhasser von Wittenberg" einen Artikel über Martin Luther in der SZ lesen? Helmut Mayer, München

Zweierlei Maß bei Thoma und Luther

Man kann es für ein Verdienst Hans Kratzers ansehen, dass der Leser durch seinen Artikel "Der Hetzer vom Tegernsee" zumindest indirekt erfährt, dass Ludwig Thomas 150. Geburtstag am 21. Januar 2017 wohl ohne offizielle Würdigung bleiben wird. Gründe dafür sind Thomas allerdings bösartige anonyme Glossen im Miesbacher Anzeiger in seinem letzten Lebensjahr.

Nun ist es allerdings so, dass es nicht wenige Schriftsteller von Weltrang gibt, deren politische Äußerungen oder andere moralische Verfehlungen - über die Gänze ihrer Lebensspanne hinweg gesehen - zu starkem Stirnrunzeln und Ärgernis Anlass gäben, was ihnen dennoch viele Leser in einer Gesamtbetrachtung nachsehen. Auch hierzulande ist man in anderen Fällen bereit, über manches hinwegzusehen. Zum Beispiel werden Luthers krasser (nicht anonymer) Antisemitismus und öffentliche Hetze gegen Bauernaufständische differenziert behandelt und verhindern nicht die Begehung von dessen großem öffentlichen Jubiläum in diesem Jahr. Ludwig Thomas nach Ansicht vieler - wie auch Hans Kratzer anerkennt - großartige Literatur verdient dieses Jahr entsprechend öffentlich gewürdigt zu werden. Robert Aigner, Landshut

© SZ vom 19.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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