Lesung mit Helke Sander:Es bleibt das Begehren

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Wenn die Sache mit der Lust zur Last wird, weil die infrage kommenden Objekte ebenfalls in die Jahre gekommen sind oder sich gleich eine Junge nehmen: Die Feministin und Filmemacherin Helke Sander liest in München aus ihrem Erzählband "Der letzte Geschlechtsverkehr".

Eva-Elisabeth Fischer

Mit Helke Sander zu sprechen ist wie den Staub von einem blinden Zeitfenster wegpusten. Man schaut auf Jahre, deren Umtriebigkeiten einen selbst, weil damals zu jung, noch nicht direkt betrafen, und die den Heutigen mindestens so fern erscheinen wie der Mond. Sie war Mitbegründerin der politischen Frauenbewegung 1968 vor deren Vereinnahmung durch Alice Schwarzer.

Sex im Alter: Der Film 'Wolke 9" brachte das Thema ins Kino, nun kommt Helke Sander mit ihrem Buch "Der letzte Geschlechtsverkehr" nach München. (Foto: ag.dpa)

Sander, unheilbar heterosexuell und deshalb alles andere als männerfeindlich, Mutter, Filmemacherin und Autorin ist mit 74 Jahren nach wie vor eine blendende Erscheinung. Lackschwarzes Kurzhaar umkränzt ein klares Gesicht mit frischem, rosigen Teint. Das Landleben! Sie bewohnt ein eigenes Haus mit Garten als Selbstversorgerin in einem 120-Einwohner-Dorf, sozusagen zwischen den alten und neuen Bundesländern, unweit ihrer Geburtsstadt Berlin. Wenn sie die rotglänzenden Lippenstiftlippen öffnet, artikuliert sich mit trockenem Humor eine redegewandte Kodderschnauze.

Würde man sie vital nennen, provozierte man Einspruch. Denn die auch sexuell agilen Alten, wie sie in der Apothekenrundschau, in Fernsehspielen und der Werbung für die Zielgruppe "Generation Silberfischchen" propagiert werden, die gebe es so kaum. "Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus", sagt sie. Deswegen hat sie ihr jüngst bei Kunstmann erschienenes Buch mit Kurzgeschichten mit einem Titel versehen, der auch abgebrühten Frauen erst einmal den Atem verschlägt: "Der letzte Geschlechtsverkehr".

"Frauen sind ja in einer weltgeschichtlich einmaligen Situation", sagt sie, "Wir werden immer älter, und wir gehören zu dieser Generation, die sexuell erfahren ist, die das genossen hat und darüber spricht und die sich nun in einer völlig neuen Situation befinden, die sich nicht auf die Erfahrungen unserer Vorgängerinnen stützen können."

Die Sache mit der Lust würde zur Last, weil die infrage kommenden Objekte ebenfalls in die Jahre gekommen und im Zweifelsfall körperlich nicht mehr attraktiv sind oder sich gleich eine Junge nehmen. Dass bei Frauen mit zunehmenden Jahren das Begehren nicht notwendig versiegt, das sei sowieso noch nicht in den Köpfen der meisten Männer angekommen.

Jenseits von Gut und Böse

In ihrem berühmtesten Erzählband, "Die Geschichten der drei Damen K.", stellt eine der Damen fest, dass es für eine Frau über 40 wahrscheinlicher sei, von einem Mann auf offener Straße erschossen als von ihm begehrt zu werden. "Für Leute in ihrem Alter gab es den Ausdruck ,Jenseits von Gut und Böse'. Früher, vor nicht allzu langer Zeit, sagte man das schon Vierzigjährigen", steht nun, fast 25 Jahre später, in der Titelgeschichte des neuen Erzählbands zu lesen.

Und noch etwas kann man dem früheren entnehmen, die immer noch gültige kleine Poetik der Helke Sander: "Die Geschichten sollten im Kern wahr sein, und den traurigen sollten die lustigen Seiten abgewonnen werden, das waren die einzigen Bedingungen." So leicht, so schwer. Deshalb schreibt Sander so langsam, deshalb tut sie sich so hart.

Das Ziel ist erreicht. Die Wahrheit findet sie in sich selbst und in den Menschen um sich herum. Drückender Melancholie wachsen dank ironischer Distanz Flügel. Was tun, wenn ein Mitbewohner in einer bildungsbürgerlichen Hamburger Etepetete-WG lautstark, und vor allem unangekündigt am helllichten Tag seine neue Flamme, "ein zauberhaftes Wesen", vögelt?

Die Auflösung findet sich in "Tantra in der Wohngemeinschaft". Wie ist es, wenn keiner mehr hergeht, und Frau sich erst zu einer Zeitungsannonce durchringt, um dann tatsächlich zu bekommen, was sie will? Nämlich reinen Sex ohne Gefühls- und Beziehungstrara. So leben es jedenfalls "Die Bibliothekarin und der Programmierer". Die Desillusionierung von Liebe, Ehe und Kindern liest sich in trauriger Lakonie, auch wenn es in der "Kunst des Zerlegens" einen neuen Liebhaber gibt: "Ein neuer Mensch. Neue Arme und Beine, Brüste, Bäuche lernten sich kennen und mögen".

Das Zeitfenster rahmt die Welt von Helke Sanders. Deshalb brauchen ihre Geschichten nichts zu behaupten, lesen sich lebensnah und doch poetisch. Deshalb bedauert man auch, dass so wenig Literarisches von ihr kommt, wobei sie einräumt, dass ja nicht alles, was sie geschrieben hat, auch angenommen und gedruckt würde. Ihr stärkstes Argument: "Ich verstehe mich zuallererst als Filmemacherin". Und dies, obgleich sie es inzwischen aufgegeben habe, Projektanträge zu stellen: "Ich kriege seit langem einfach kein Geld mehr."

Da hat sich offenbar ein Teufelskreis geschlossen. Die Schwierigkeiten, die sie als junge Filmemacherin hatte, rührten daher, dass Frauen eben keine Filme machten. "Nurit Aviv, heute eine berühmte Kamerafrau, kriegte damals keinen Job, weil man sagte, die kann ja alles nur aus der Froschperspektive machen." Beim Gemeinschaftsprojekt "Deutschland im Herbst" von acht Regisseuren hätte sie gern mitgemacht, aber man hat auf ihren Vorschlag nicht einmal geantwortet. Und heute, so scheint es, rast der Kulturbetrieb über sie hinweg.

Man hat ihren Filmen immerhin eine Retrospektive im Berliner Arsenal gewidmet. Aber, was ihren bestimmt wichtigsten Dokumentarfilm anbelangt, der von den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten am Ende des Zweiten Weltkriegs handelt, griffen Vergessen und Verdrängen fatal ineinander.

Bevor Max Färberböcks "Anonyma", die Verfilmung des autobiografischen Buches "Eine Frau in Berlin" von Marta Hillers 2008 ausgestrahlt wurde, hörten sich sämtliche Vorberichte an, als sei dieses historische Kapitel bis dato noch nicht erforscht und daher gänzlich neu gewesen.

Es war, als hätte es Helke Sanders "Befreier und Befreite" nie gegeben. "Ich war ja als kleines Mädchen noch dabei, hab' das noch miterlebt", sagt Helke Sander. Zehn Jahre hat sie zusammen mit der Historikerin Barbara Johr recherchiert und detaillierte Fragebögen ausgearbeitet, die erhärteten, dass es wohl zwei Millionen Vergewaltigungen waren.

Helke Sander stellt bei allem, was sie macht, immer den gesellschaftspolitischen Aspekt in den Vordergrund. Wahrscheinlich wirkt sie auch deshalb ein wenig aus der Zeit gefallen. Ein Fehler.

Helke Sander liest aus ihrem Buch "Der letzte Geschlechtsverkehr" zum Ende der Bücherschau am Sonntag, 27. November im Gasteig.

© SZ vom 26.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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