Legasthenie und Dyskalkulie:Chaos im Kopf

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Die Grundschüler, die zu Verena Illing in den Förderunterricht kommen, haben oft einen beschwerlichen Weg hinter sich: Frust in der Schule, Streit mit den Eltern, schlechte Noten. Die Ursache ist bei allen die gleiche - eine Lese- und Rechtschreibschwäche

Von Melanie Staudinger

Ü, sagt Wolfgang. Ja, das Ü muss es sein. Die "Aufpassstelle", nach der seine Lehrerin Verena Illing gerade gefragt hat, der Buchstabe im Wort "Spürnase", auf den der Drittklässler ganz besonders achten soll. Wolfgang lacht. Erfolge sind wichtig für den Jungen, der die Grundschule an der Königswieser Straße im Münchner Stadtteil Fürstenried-West besucht. Denn der Drittklässler tut sich schwer mit Dingen, die für andere Kinder in seinem Alter schon selbstverständlich sind. Wolfgang hat Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben. Gemeinsam mit elf Mitschülern kommt er deshalb einmal in der Woche zu Verena Illing in den sogenannten LRS-Förderunterricht, einen Kurs extra für Kinder mit Lese- und/oder Rechtschreibschwäche.

Hier lernen die Schüler nach dem eigentlichen Schulschluss, wie sie sich besser konzentrieren, mit welchen Strategien sie auch schwierige Wörter richtig schreiben können. "Anschauen, untersuchen, im Kopf fotografieren, aufschreiben und kontrollieren", erklärt Illing. Heute unterrichtet sie eine kleinere Gruppe, statt zwölf Kindern sind nur sechs Jungen und zwei Mädchen da. Sie stehen im Halbkreis vor der Tafel und versuchen, einen Code zu entschlüsseln. Nur wer alle Schritte befolgt, kommt ans Ziel - und kann dem Meisterdetektiv helfen, das richtige Passwort zu finden. Spielerisches Lernen, denkt der Laie. Lehrerin Illing spricht lieber von Handlungsorientierung. Überhaupt ist in ihrem Unterricht viel Bewegung. Mal versammeln sich die Kinder vor der Tafel, dann bilden sie einen Kreis am Boden und manchmal sitzen sie auch an ihren Pulten. Wer eine Aufgabe richtig gelöst hat, bekommt einen Pluspunkt: Motivation.

Motivation ist genau das, was die Kinder im Förderkurs brauchen. Einige von ihnen haben einen beschwerlichen Weg hinter sich. Sie kennen den Frust, weil es trotz allen Lernens wieder nicht geklappt hat mit einer guten Note. Die Debatten mit den Eltern, weil alles Üben nur wenig bringt. Und die Verzweiflung, weil Mama und Papa mal wieder nur schimpfen, die Mädchen und Buben ihre Fehler selbst aber nicht erkennen. Dabei sind Kinder mit einer Lese-Rechtschreibschwäche oder Legasthenie nicht weniger intelligent als ihre Altersgenossen. Sie sind durchschnittlich begabt, tun sich aber schwer mit der Schriftsprache. "Sie können keine Silben klatschen oder Reime erkennen", sagt Petra Marasi. Die Schulpsychologin betreut an der Grundschule an der Königswieser Straße die Kinder mit Lernstörung und berät die Familien.

Illustration: SZ (Foto: k)

Erste Anzeichen von Legasthenie zeigen sich bereits im Kindergarten - wenn Kinder Worte nicht deutlich nachsprechen können. Aber nicht jeder, der anfangs Probleme hat, Buchstaben zu benennen und sie in die richtige Reihenfolge zu bringen, ist gleich ein Legastheniker. "Wir empfehlen, Legasthenie erst Ende der zweiten oder Anfang der dritten Klasse zu diagnostizieren", sagt Marasi. Vorher habe es wenig Sinn, zumal es Kindern immer wieder gelinge, ihre Lernstörung mit Auswendiglernen zu vertuschen.

Stellt sich heraus, dass der Schüler Schwierigkeiten hat, schickt Marasi ihn zum Kinder- und Jugendpsychiater. Nur der kann Legasthenie feststellen - und damit die Tür öffnen zu einer besseren Förderung. Mit einem Gutachten bezahlt das Jugendamt eine Therapie. In der geht es weniger um die Lernschwäche an sich als um die Stärkung der Persönlichkeit. Wer offiziell Legasthenie habe, habe zudem Anspruch auf einen Nachteilsausgleich, erklärt Marasi. Der ermögliche Lehrern, individuell auf die Kinder einzugehen: Rechtschreib- und Leseleistungen werden nicht oder zurückhaltender bewertet. Bei einem Aufsatz etwa zählt nur der Inhalt, Diktate schreiben Legastheniker nicht mit. Sie erhalten stattdessen einen Lückentext zum Ausfüllen.

Einmal in der Woche besuchen die Fürstenrieder Schüler den Kurs von Illing, die eine spezielle Ausbildung zur Förderlehrerin absolviert hat und seit diesem Schuljahr an der Königswieser Straße arbeitet. Der Kurs existiert schon viel länger, so lange, dass sich Rektorin Regina Kimpfbeck gar nicht mehr erinnern kann, wann er eingeführt wurde. Trotz aller Erfahrung müsse die Schule immer wieder auf neue Herausforderungen reagieren. Auf Eltern zum Beispiel, die eine Legasthenie-Diagnose mit Zwang anstreben, um so die Noten ihrer Kinder zu verbessern und den Übertritt aufs Gymnasium zu erreichen. Oder auf die wachsende Zahl von Flüchtlingen. "Es ist schwierig herauszufinden, ob ein Kind Fehler macht, weil es nicht gut Deutsch kann oder weil es eine Lernschwäche hat", sagt Kimpfbeck.

Verena Illing übt mit Kindern der Grundschule an der Königswieser Straße. (Foto: Schellnegger)

Je eher eine Entwicklungsstörung erkannt wird, desto besser kann dem Kind geholfen werden. Dennoch verursachen sowohl Legasthenie als auch Dyskalkulie, die Rechenschwäche, bei der Betroffene keine Vorstellung vom Zahlenraum haben, bis heute bei vielen Kindern und Jugendlichen bis ins Erwachsenenalter erhebliche schulische Schwierigkeiten und psychische Probleme. Die Forschung versucht, neue Methoden zu entwickeln, um den Betroffenen effizienter helfen zu können - etwa bei einem internationalen Symposium, das am 19. und 20. April auf Einladung der Koordinierungsstelle "Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten" in München stattfindet. Noch immer ist nicht abschließend geklärt, welchen Einfluss genetische Faktoren genau haben oder wie neurobiologische Erkenntnisse bei Lernmethoden helfen können.

Für die große Wissenschaft können sich Wolfgang und seine Mitschüler mit ihren acht oder neun Jahren noch nicht erwärmen. Für die Forschung im Kleinen aber haben sie sehr viel übrig: Mittlerweile haben sie sich durch einige Arbeitsblätter geackert und am Ende doch tatsächlich auch das geheime Codewort des Meisterdetektivs gefunden: "Super", lautet es. Super ist auch das Fazit von Lehrerin Illing, die an jeden Schüler einen Pluspunkt verteilt.

© SZ vom 19.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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