Lebensbewältigung:Weg mit dem Scherbenhaufen

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Der Schmerz komme immer wieder, sagt Isabel Schupp. Aber man könne lernen, damit umzugehen: "Wenn ich sage, der Schmerz darf sein, nimmt das dem Ganzen die Wucht." (Foto: Florian Peljak)

Isabel Schupp hat nach dem Tod ihrer Tochter ihr berufliches Leben radikal verändert. Sie war Schauspielerin und Rhetoriktrainerin, jetzt arbeitet sie vor allem als Trauerbegleiterin

Von Gerhard Fischer

Isabel Schupp liest eine Geschichte vor - von einer alten chinesischen Frau, die zwei Schüsseln hatte, eine makellose und eine mit Sprung; jede fasste einen Liter. "Die Frau brachte aber immer nur eineinhalb Liter Wasser mit nach Hause", liest Schupp vor, "aus der Schüssel mit dem Sprung lief auf dem Heimweg Wasser aus." Die makellose Schüssel war stolz, jene mit dem Sprung schämte sich. Die alte Frau aber sagte zu ihr: "Siehst du nicht, dass auf deiner Seite des Pfades Blumen blühen? Ich habe dort Blumensamen gesät und du gießt sie. Wenn du nicht so wärst, wie du bist, gäbe es diese Blumen nicht."

Isabel Schupp blickt in die Runde. Vor ihr sitzen Eltern, die ihr Kind verloren haben. "Unser Leben war auch mal ganz", sagt sie. "Aber dann ..." Sie schlägt mit dem Hammer eine Kachel kaputt. "... hat es einen Schlag getan und wir standen vor einem Scherbenhaufen."

Isabel Schupp hat selbst ein Kind verloren: Ihre Tochter Pauline starb im Dezember 2006 an Leukämie. Mit 16 Jahren. Nach sechs Jahren Krankheit, Hoffnung, Rückfällen. Schupp hat ein ergreifendes Buch darüber geschrieben, das 2014 als Hardcover erschienen ist. Und sie hat nach dem Tod der Tochter ihr berufliches Leben radikal verändert. Sie war Schauspielerin und Rhetoriktrainerin, jetzt ist sie vor allem Trauerbegleiterin. "Das Schreckliche, das ich erlebt habe, muss doch zu etwas dienen", sagt sie.

Sommer 2017. Ein Trauerseminar im Kloster Bernried. Teilnehmer: ein Mann und acht Frauen. "Das ist öfters so", sagt Isabel Schupp, "Männer kommen nicht so häufig. Männer gehen oftmals anders damit um."

Die Gruppe, die sich in Bernried trifft, ist zum zweiten Mal da. "Bei manchen ist der Verlust schon Jahre her, bei manchen erst ein Jahr ", sagt Schupp. Alles sei dabei: Kindstod, Krebs, Unfall, Gewaltverbrechen, Suizid.

In ihrem Buch beschreibt Schupp ihre Verzweiflung, während für andere das Leben weiter geht: "Die Leute lachen auf der Straße, die S-Bahn fährt, nichts weist darauf hin, dass etwas Furchtbares passiert ist." Viele Eltern sind irgendwann alleine mit ihrem Schmerz. "Unser Seminar soll dem Furchtbaren, der Trauer eine Aufmerksamkeit geben", sagt Isabel Schupp, "dann ist Trauer heilsam."

Die zweite Seminarleiterin, Birgit Schuder, hat ihren Sohn bei einem Verkehrsunfall verloren. Weil die Seminarleiter ein ähnliches Schicksal haben, fassen die Teilnehmer schnell Vertrauen. Sie wissen, dass sie verstanden werden.

Isabel Schupp führt über eine Wendeltreppe hoch in den Raum, in dem sich in diesen vier Seminar-Tagen das meiste abspielt. Dort befindet sich ein Stuhlkreis, und in dessen Mitte sieht man Blumen, Kinderbilder, Kerzen, Stofftiere.

Am ersten Tag stellen sich die Teilnehmer, die aus ganz Deutschland gekommen sind, kurz vor. Sie malen ein Bild und reißen ein Stück heraus - wie das Kind, das aus dem Leben gerissen wurde.

Am zweiten Tag des Seminars erzählen sie ausführlich von ihren Kindern. Da gibt es dann auch viele Tränen. "Erzählen ist das Wichtigste", sagt Isabel Schupp.

Jetzt ist der dritte Tag. Es ist 9.30 Uhr: Isabel Schupp liest die Geschichte mit der makellosen und der kaputten Schüssel vor. "In der Geschichte durften wieder Blümchen wachsen", sagt sie zu den Teilnehmern, "wir werden unseren Scherbenhaufen zusammensetzen. Deshalb sind wir hier. Unsere Kinder wollen nicht, dass wir unser Leben im Scherbenhaufen verbringen."

Sie gehen nach draußen, mit einem Haufen intakter Kacheln. Rote, weiße, grüne, blaue, schwarze. Es ist ein wunderschöner, grüner Klostergarten, hier in Bernried. Und man sieht, nicht weit entfernt, den Starnberger See.

Die glänzenden makellosen Kacheln werden auf den Boden gelegt und von den Teilnehmern zerschlagen. Manche schlagen alleine, manche zu zweit, manche zögerlich, manche heftig. Manche sind ernst, manche lachen. Splitter spritzen hoch. "Das ist arbeitschutzmäßig fragwürdig", sagt der einzige Mann. Die anderen lachen.

Im Hintergrund läuten die Glocken des Klosters. "Das erinnert mich an Friedhofsglocken", sagt eine Frau.

Es ist eine junge Frau dabei, ein junges Paar, einige Frauen im mittleren Alter und einige Ältere. Eine ältere Frau weint kurz, die junge Frau nimmt sie in die Arme. Am Ende zertrümmern alle zusammen einen Spiegel. Etwas zusammen zu machen: Das ist wichtig. Dann werden die Scherben auf Teller geladen und zurück in den Seminarraum gebracht. Dort sollen sie mit Leim auf einem Stück Holz zusammengesetzt werden.

"Ist das fürs Grab gedacht?", fragt eine Teilnehmerin.

"Ja, wenn man will", antwortet Isabel Schupp.

Die Teilnehmer bestreichen die Scherben mit Leim und kleben sie auf die Bretter, Stück für Stück. Manche reden miteinander. Isabel Schupp bittet sie, das Ganze still zu machen. Leise Musik wird angemacht. Man hört nur noch die Musik und das Klirren der Scherben, die genommen und geklebt werden.

"Durch die Stille kommen die Teilnehmer mit ihrer Trauer in Berührung", sagt Schupp später unten im Garten, "der Schmerz muss gesehen und gehört werden, damit er heilsam sein kann."

Dann geht sie wieder hoch zu den Teilnehmern, die ihre Scherbenhaufen zusammensetzen.

Monate später. Im Oktober ist Isabel Schupps Buch "Die Nacht bringt dir den Tag zurück" als Paperback erschienen. Es ist sehr gut geschrieben. "Es hat auch einen literarischen Wert", sagt sie, und: "Sie müssen auch mal zu einem meiner Kommunikationsseminare kommen."

Ende November. München-Nymphenburg. Isabel Schupp steht um kurz vor neun Uhr im Büro von Doktor Marcus Schlemmer, dem Leiter der Palliativ-Station der Barmherzigen Brüder. Das heißt: Sie steht nicht, sie läuft zwischen einem Tisch, auf dem viele Blätter liegen, und dem Schreibtisch, an dem Schlemmer vor seinem Computer sitzt, hin und her. Sie ist eine schnelle Frau. Was muss noch ausgedruckt werden für das Seminar, das gleich beginnen wird? Was haben wir? Was fehlt noch? Vergessen wir nichts?

Schupp und Schlemmer geben an diesem Tag ein Seminar für Ärzte und Pflegekräfte. "Konflikte mit Angehörigen und Patienten", heißt das Seminar, "Grundlagen und Methoden der empathischen Gesprächsführung."

Neun Uhr. Schupp und Schlemmer nehmen die Blätter für die Teilnehmer unter den Arm und gehen zum Seminarraum. Zehn Leute - alle aus der Klinik der Barmherzigen Brüder - hatten sich angemeldet, sieben sind um kurz nach Neun da. "Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige", sagt Schlemmer, "aber wir leben in einer Demokratie." Er macht öfter mal Witze. Die Stimmung ist locker.

Um 9.15 Uhr beginnt das Seminar. Alle sind da. Manche haben Arzt- oder Pflegekraft-Kittel an. Isabel Schupp begrüßt jeden Teilnehmer mit Handschlag. Es sind neun Frauen und ein Mann. Es ist wieder ein Frauen-Überschuss, wie beim Trauerseminar in Bernried.

Dann stellt sich Isabel Schupp vor. Sie sei ursprünglich Schauspielerin gewesen, aber nach dem Krebs-Tod ihrer Tochter habe sie nicht mehr "auf der Bühne stehen und lustig sein" können. Bei den unzähligen Klink-Aufenthalten von Pauline habe sie gemerkt, wie wichtig das Thema Kommunikation sei. Mal habe man sich gut aufgehoben, mal alleine gelassen gefühlt.

Schupp orientiert sich an der "gewaltfreien Kommunikation" nach Marshall B. Rosenberg, bei der es ums Zuhören und Einfühlen geht, bevor man zu Lösungen und Ratschlägen kommt. Die Teilnehmer machen dazu eine Partnerübung: Je zwei sitzen sich gegenüber, einer erzählt drei Minuten von einem Problem, ohne dass ihn der andere unterbricht. "Es soll schon mit persönlichem Tiefgang sein und nicht ums Mittagessen gehen", sagt Isabel Schupp. Anschließend fasst der Zuhörer das Gesagte mit dem Eingangssatz "Ich habe verstanden, dass ..." in zwei Minuten zusammen und versucht zu ergründen, wie es dem Erzähler geht.

Und danach reden die Teilnehmer im Plenum darüber, wie er ihnen bei dieser Partnerübung ging. "Man greift nicht ein, lenkt das Gespräch nicht - das ist gut", sagte eine Frau. "Sie konnte sich alles von der Seele reden, ohne dass ich meinen Senf dazu gegeben habe", sagt eine andere. "Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Geschichte etwas verworren erzählt habe", sagt eine Dritte, "aber als meine Zuhörerin das Ganze zusammengefast hat, hatte ich Klarheit." Schupp hört zu, nickt, kommentiert. Alles, was sie tut, macht sie mit Wärme. Zwei Tage später im Literaturhaus am Salvatorplatz. Isabel Schupp erzählt, wie viele Aus- und Fortbildungen sie nach dem Tod der Tochter gemacht hat. Fast alle hatten mit Tod und Trauer zu tun. Sie suchte auch die Bühne, als Seminarleiterin und bei Lesungen; als Schauspielerin lag das nahe. Sie geht also mit der Trauer nach außen.

Schupp spricht über den Wert der Achtsamkeitsmeditation für ihre Trauerbewältigung, über eine alte, bettlägerige Frau, die sie betreue, oder über bekannte Menschen, die Kinder verloren hatten: Siegmund Freud, Wilhelm und Caroline von Humboldt, der Musiker Gustav Mahler und der Schriftsteller Friedrich Rückert, der 400 Gedichte über den Tod seiner beiden Kinder geschrieben habe. "Es ist viel Kunst aus Leid entstanden", sagt sie. Dann spricht sie über ihre eigenen Bühnenprogramme, Lesungen und Balladenabende, die alle mit dem Tod zu tun haben, und irgendwann fragt sie, ob sie zu viel rede.

Ganz und gar nicht. Aber natürlich muss man zwischendurch die Frage stellen, wie es ihr heute geht, knapp elf Jahre nach dem Tod von Pauline.

"Ich bin dankbar für das, was daraus erwachsen ist", sagt sie zunächst. Ihre Arbeit. Aber auch Freundschaften mit Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben. Etwa mit Natalie Schwaabe, die im Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks Querflöte spielt; Schwaabes Sohn war auch an Leukämie gestorben. Die beiden Mütter treten heute gemeinsam auf.

"Aber natürlich gibt es immer wieder Momente von Heulen und Zähneklappern", sagt Isabel Schupp. Und natürlich hat sie manchmal Tränen in den Augen, wenn sie von Pauline erzählt. Der Schmerz sei "wie ein Mitbewohner, der einmal gekommen ist und nicht wieder geht", schreibt sie in ihrem Buch. "Es hat gar keinen Sinn, ihn hinauszuwerfen zu wollen, denn er wohnt in mir, er ist ein Teil von mir."

Aber sie will dem Schmerz nicht den ganzen Raum überlassen. "Ich kann neue Mitbewohner einladen", schreibt sie. "Freude, Zufriedenheit, Gelassenheit, ein kleines Glück, Heiterkeit, Dankbarkeit. Mit all diesen freundlichen Gesellen möchte ich den Raum, in dem mein Schmerz wohnt, anfüllen. Das ist der Weg."

Am Ende redet sie im Literaturhaus noch über ihre Herkunftsfamilie. Ihr Großvater, der Architekt Fritz Schupp, habe die Zeche Zollverein in Essen geplant, sagt sie. Nach dem frühen Tod des Vaters - Isabel Schupp war fünf Jahre alt - sei die Familie nach Bayern gezogen. Als der Bruder 18 war, starb er bei einem Verkehrsunfall.

Isabel Schupps Mutter hat also fast das gleiche Schicksal erlebt wie sie.

© SZ vom 28.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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