SZ-Serie: "Wie ausgewechselt":Stürmender Student

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Mit seinem Tor schob Anton Nachreiner eine irre Aufholjagd an, am Ende stand es im Aufstiegsspiel gegen Arminia Bielefeld 4:0 für die Sechzger. (Foto: Imago)

Löwen-Held: Mit seinem Tor ermöglichte Anton Nachreiner den Aufstieg in die erste Bundesliga - nun ist er Präsident des Landgerichts in Deggendorf.

Von Andreas Glas

Viele Profi-Fußballer bleiben nach dem Ende der Karriere in der Branche: als Trainer, als Manager, als TV-Experten. Aber manche ergreifen Berufe, die gar nichts mehr mit dem Fußball zu tun haben, sie werden Schreiner, Ärzte oder Richter. Mit ihnen befasst sich die Serie "Wie ausgewechselt".

Es gibt eine Anekdote, die viel erzählt über Anton Nachreiner. Es war das Jahr 1976, es war Sommer, Nachreiner hatte das zweite Probetraining beim 1. FC Nürnberg hinter sich. Club-Trainer Hans Tilkowski holte ihn zu sich und machte ihm ein Angebot, das ein junger Landesligaspieler eigentlich nicht ablehnen konnte: ein Profivertrag für die zweite Bundesliga. Nachreiner hätte nur einschlagen müssen, aber er hat abgelehnt, hat seine Sporttasche gepackt und ist gegangen. Denn so gut das Angebot war, es hatte einen Haken. Trainer Tilkowski wollte ihm verbieten, neben dem Fußball zu studieren. Nachreiner erinnert sich: "Da war die Sache für mich erledigt, ich bin sofort heimgefahren."

Er fuhr also heim, zurück nach Deggendorf. Dorthin, wo er im Jahr zuvor 22 Tore in einer Landesliga-Saison geschossen hatte. Dorthin, wo er seit vergangenem Montag Präsident des Landgerichts ist - und es nie geworden wäre, hätte er damals eingeschlagen, als ihm der Club-Trainer die Hand hingehalten hatte. Er hat letztendlich Karriere gemacht, weil ihm Karriere nie wichtig war, jedenfalls nicht die schnelle Karriere.

Es ist Dienstagvormittag, Anton Nachreiner sitzt am Besprechungstisch seines Büros und deutet auf die kahle Wand neben seinem Schreibtisch. "Ich muss mal schauen, ob ich die Fotos da hinkriege", sagt Nachreiner. Er sei ja erst zwei Tage im neuen Büro, er habe sich noch nicht darum gekümmert. Nachreiner meint die vier gerahmten Mannschaftsfotos, die noch in seinem alten Büro hängen und davon zeugen, dass der Richter Anton Nachreiner damals doch noch Karriere als Fußballer gemacht hat. Vier Jahre lang. Als "Toni", der Rechtsaußen.

"Es war ein glücklicher Zufall", sagt er, dass ihn dann auch noch der TSV 1860 zum Probetraining nach München geladen habe. Auch dieser Satz sagt viel über ihn. Über einen, der sich noch heute kleiner macht als er ist. Über einen, der unbedingt studieren wollte. Der bereit war, sein Fußballertalent für ein Studium zu opfern, obwohl er nicht mal Geld hatte für eine Studentenbude. Aber dann kamen ja die Sechzger, denen es gleich war, dass er neben dem Fußball studierte - und plötzlich war das Geld da. Fehlte nur noch das richtige Fach. "Ich hatte keine Ahnung, was ich studieren sollte", sagt Nachreiner. Er habe sich dann Jura ausgesucht, "weil es da keine Anwesenheitspflicht gab". Weil er als Jurastudent auch mal eine Vorlesung schwänzen konnte, wenn ein wichtiges Spiel bevorstand.

Also nahm er sich eine kleine Wohnung in Giesing und ging abwechselnd ins Training und zur Uni. Das Studium fiel ihm leicht, der Sprung von der Landesliga in die Bundesliga umso schwerer. Er war ein feiner Techniker, flink und wendig, aber keine 1,70 Meter groß. Er hatte Angst, er könnte sich nicht durchsetzen gegen die großen, kräftigen Abwehrspieler der Gegner. Aber er biss sich durch, wurde Stammspieler - und war der herausragende Sechzger in einem der legendärsten Spiele der Vereinsgeschichte.

Am 4. Juni 1977 spielte der TSV 1860 im Olympiastadion gegen Arminia Bielefeld um den Aufstieg in die erste Liga. 60 000 Zuschauer waren gekommen, aber Hoffnung hatte kaum einer mitgebracht. Eine Woche zuvor hatten die Löwen das Hinspiel mit 0:4 verloren. "Das war ein aussichtsloses Unterfangen", sagt Nachreiner. Dann erzählt er von der 23. Minute, mit dem Zeigefinger zeichnet er auf dem Besprechungstisch den Weg des Balls nach: "Ich habe mich in der Mitte durchgewurschtelt, plötzlich bin ich allein vorm Tor gestanden und dann hab ich ihn unter die Latte gehauen." Mit seinem Tor schob Nachreiner eine irre Aufholjagd an, am Ende stand es 4:0 für die Sechzger - und seine Mitspieler trugen ihn auf den Schultern aus dem Olympiastadion. "Das war natürlich das Highlight meiner Fußballerkarriere", sagt Nachreiner.

Wieder eine Woche später gewannen die Löwen das Entscheidungsspiel in Frankfurt, der Aufstieg war geschafft - und Anton Nachreiner bekam es schon wieder mit der Angst zu tun. Auf dem Rückflug nach München fragte ihn ein Fußballreporter, wie groß denn nun die Freude sei nach dem Aufstieg. Nachreiners Antwort kann man heute noch nachlesen, irgendjemand hat den Zeitungsausschnitt von damals ins Internet gestellt. Seine Antwort ist eine Gegenfrage, der Artikel zitiert Nachreiner wörtlich: "Konnst du dir vorstellen, dass i in der nächsten Saison gega den Berti Vogts spui? Na, na des kon i net. Wia soi des bloß wern. Letztes Jahr Landesliga, nächstes Jahr Bundesliga, des werd i net verkraften, da werd i net so oft zum Zug kemma."

Nach vier Jahren im Profifußball war Schluss: Nachreiner wurde Richter. (Foto: Stephan Gauer, Mediendenk)

Es war nicht kokett, es war sein Ernst. Man habe ihm damals immer wieder vorgeworfen, er sei nicht selbstbewusst genug, "aber ich glaube eher, dass das realistische Selbsteinschätzung war", sagt Nachreiner. In der ersten Liga blieb er zwar Stammspieler, aber traf kein einziges Mal ins Tor. Am Ende stiegen die Löwen wieder ab, erst in der zweiten Liga machte Nachreiner wieder Tore. Bis er sich im vierten Jahr bei den Löwen verletzte und ihn der Verein links liegen ließ, statt ihm wieder auf die Beine zu helfen. "Ich habe nicht mal eine Reha bekommen", sagt Nachreiner, er habe dann schnell gemerkt, "dass die gar nicht mehr interessiert, was mit mir ist." Nach vier Jahren machte er Schluss als Profi, er war da gerade mal 25 Jahre alt. Eine kurze Karriere, aber eine, die Spuren hinterlassen hat in der Chronik des TSV 1860. Trotzdem sagt Nachreiner: "Ich war froh, als es vorbei war."

Und als es vorbei war, zahlte sich aus, wofür er als Fußballer noch kritisiert worden war: seine realistische Selbsteinschätzung. Nachreiner sagt, er habe schon früh gespürt, "dass ich nicht den Körper habe, um zehn Jahre herausragenden Fußball zu spielen". Deshalb habe er von Anfang an die Zeit nach dem Fußball mitgeplant, die schönere seiner beiden Karrieren, findet er: "Als Profifußballer wird permanent Druck auf einen ausgeübt, als Richter hat man im Grunde überhaupt keinen Druck. Weil man ja praktisch unabhängig ist."

Er richtet jetzt über Drogendealer, über Mörder und Totschläger. Aber die großen Schlagzeilen, die macht Nachreiner auch heute noch mit dem Fußball. Seit 14 Jahren ist er Mitglied im Kontrollausschuss des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), seit acht Jahren dessen Vorsitzender. In dieser Zeit hatte er es mit Wettbetrügern zu tun, hat Vereine für ihre randalierenden Fans mit Geisterspielen bestraft, hat Jürgen Klopp zu einer Geldstrafe verdonnert, weil er in seiner Wut den Schiedsrichter angepöbelt hat. Ein Dutzend Mal im Jahr fährt er zu Verhandlungen nach Frankfurt, wo das DFB-Sportgericht sitzt, aber den Großteil dieses Jobs übt er vorm Fernseher aus, schaut Bundesligaspiele von Freitag bis Montag. "Ich bemühe mich, dass ich alles schon live mitbekomme", sagt Nachreiner.

Wenn dann noch Zeit bleibt, fährt er nach Regensburg und schaut seinem Sohn Sebastian zu, der für den SSV Jahn in der Regionalliga spielt. Auch sein Sohn hat vier Jahre Profifußball hinter sich, auch er studiert Jura, schreibt gerade Examen. Von Anton Nachreiners früheren Mitspielern beim TSV 1860 hat außer ihm nur einer studiert, Alfred Kohlhäufl, er wurde später Berufsschullehrer. Was die anderen heute so machen, das wisse er nicht, sagt Nachreiner. Nur einer falle ihm ein, Peter Falter, früher Stürmer bei den Löwen, später Busfahrer. Von den Gehältern, die in den Siebzigerjahren im Fußball gezahlt worden seien, von denen "hätte man nicht lange zehren können". So gesehen sei er gar kein Berufsfußballer gewesen, sagt Nachreiner: "Ich war ein gut verdienender Student, mehr nicht".

© SZ vom 05.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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