SZ-Serie "Sagen und Mythen", Folge 11:Der böse Wolf

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1864 ist im Waldgebiet "Zuckermantel" bei Dorfen wohl das letzte Tier in dieser Gegend erlegt worden. In dem Märchen der Gebrüder Grimm wird er als Gefahr für die Menschen dargestellt. Im Landkreis Erding soll es noch im 19. Jahrhundert zu tödlichen Attacken gekommen sein

Von Sophia Neukirchner

Der "böse Wolf" wird nicht nur in den Märchen der Gebrüder Grimm als Gefahr des Waldes beschrieben. Gleich drei Sagen, die man sich rund um Erding erzählt, berichten von Wolfsüberfällen im 17. und 19. Jahrhundert, die wohl tödlich endeten. Das alles ist lange her - und lange Zeit war der Wolf bei uns nicht mehr heimisch. Verdrängt von den Menschen. Aber die Tiere werden sich in absehbarer Zeit wieder in Bayern ansiedeln, sagt Eric Imm, der Naturschutzreferent des Landesjagdverbandes. Schon jetzt werden immer wieder einzelne, durchwandernde Wölfe in Bayern gesichtet. Aber Angst haben müssen Wanderer unserer Tage nicht - anders, als es eine Sage aus dem 19. Jahrhundert erzählt.

Zwei junge Mädchen sollen seinerzeit auf dem Weg von Neuharting nach Norlaching im heutigen Landkreis Erding Opfer von Wölfen geworden sein. Die beiden waren in Neuharting zum Spinnen, und als sie den Heimweg antraten, boten zwei Knechte ihre Begleitung an. Die jungen Frauen schlugen das Angebot aus, sie würden im Falle einer Gefahr schreien. Als die Knechte wenig später tatsächlich Hilferufe vernahmen, machten sie sich schnell mit Mistgabeln bewaffnet auf den Weg. Sie fanden die Mädchen im Wald - lebendig und lachend. Die beiden hatten sich nur einen Spaß erlaubt, die Knechte zogen wütend von dannen.

Am nächsten Tag waren die Mädchen erneut zum Spinnen in Neuharting und wieder wurde es dunkel, ehe sie den Heimweg antreten konnten. Diesmal baten sie die Knechte darum, sie zu begleiten, weil sie sich fürchteten - die Knechte lehnten die Bitte ab. Kurz darauf schallten Schreie aus dem Wald, die jungen Männer vermuteten einen weiteren Scherz und reagierten nicht. Am nächsten Morgen fand man nur noch Kleiderfetzen auf dem Weg.

Anton Kremser aus Norlaching und Cili Wandinger aus Weckerling konnten sich zu der Zeit, als Johann Wimmer aus Dorfen diese und weitere Sagen aus der Region sammelte, noch an eine Gedenktafel an der Stelle des Geschehens erinnern, die an einem Baum oberhalb von Neuharting hing. Wimmer veröffentlichte seine Sammlung 2004 im Erdinger Land unter dem Titel "Sagen, Legenden, Anekdoten und Erzählungen aus dem Erdinger Raum". Darin findet sich noch eine weitere Begegnung: In der Nähe von Tappberg auf einem uralten Kirch- und Schulweg erinnerte eine Gedenktafel an einen Wolfsüberfall. Dort im dunklen Wald, zwischen Adlstraß und Grüntegernbach, soll um 1850 eine Spinnerin "zerfleischt" worden sein.

All diese Geschichten passen in die Zeit, als die Gebrüder Grimm die Märchen "Rotkäppchen und der Wolf" (1837) und "Der Wolf und die sieben jungen Geißlein" (1857) veröffentlicht haben. Besonders die Geschichte vom Rotkäppchen - einem jungen Mädchen, das allein durch den Wald läuft und dem "böse Wolf" begegnet - ähnelt stark den Begebenheiten in Norlaching und Tappberg.

Tatsächlich wurden in den vergangenen 50 Jahren in Europa neun tödliche Zwischenfällen mit einem der mehr als 10 000 europäischen Wölfe registriert. In Deutschland ist der Wolf seit 1996 wieder heimisch, seitdem wurde kein Zwischenfall verzeichnet. Im Vergleich dazu kamen in Deutschland seit 1989 40 Menschen durch Angriffe von Hunden ums Leben.

"Ein gesunder Wolf würde unter normalen Umständen keinen Menschen angreifen", sagt Eric Imm, Naturschutzreferent des Bayerischen Jagdverbandes. Wölfe scheuen sich von Natur aus vor dem Menschen, üblichen Beutetiere sind Rotwild, Reh und Wildschwein. "Man muss jedoch beachten, dass im 19. Jahrhundert immer wieder Seuchenzüge der Tollwut durchs Land gefegt sind" - die am Rabiesvirus erkrankten Tiere durchlaufen einen Wesenswandel, werden zudringlich und aggressiv. In den meisten Fällen endet die Krankheit tödlich - auch für den gebissenen Menschen. Bei den Menschen, die in jüngerer Vergangenheit in Europa durch einen Wolfsangriff zu Tode gekommen sind, waren es in fünf von neun Fällen tollwütige Tiere. Aus Bayern ist die Tollwut seit Anfang der Achtzigerjahre verschwunden, Deutschland gilt seit 2008 als tollwutfrei. Zur Zeit der Erdinger Wolfssagen war die Krankheit in der bayerischen Wildpopulation aber durchaus präsent.

Eric Imm verweist auf einen weiteren Punkt, der im Sagenkontext eine Rolle gespielt haben könnte: Mitte des 19. Jahrhunderts, nach der Revolution von 1848, wurde das Jagdrecht geändert. Einige Jahrzehnte lang durften daraufhin auch Bürger und Bauern fast uneingeschränkt jagen, was in einer drastischen Minimierung der Wildpopulation mündete.

Die hungrigen Wölfe wurden so gezwungen, Schafe und Ziegen der Bauern zu reißen. Der Wolf wurde daraufhin erbittert bis zur Ausrottung gejagt. 1882 wurde bei einer Treibjagd der letzte Wolf in Bayern erschossen. Der letzte der Erdinger Gegend soll sogar noch früher, 1864 im Waldgebiet "Zuckermantel" bei Dorfen, erlegt worden sein. Ende des 19. Jahrhunderts war der Wolf komplett aus Deutschland verschwunden. Seit 1992 steht er in der Europäischen Union unter Schutz, und auch in Deutschland entwickelt sich langsam wieder eine Population. Heute leben nach Angaben des bayerischen Landesamtes für Umwelt 46 Rudel und 15 Paare, das entspricht 120 bis 130 erwachsenen Wölfen - eine vergleichsweise geringe Zahl. Sie leben außerhalb ihres Kernvorkommens in der Lausitz in der sächsischen Schweiz, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen.

In Notsituationen, wie Mitte des 19. Jahrhunderts, als es nur wenig jagbares Wild gab, wichen die Wölfe - Jäger mit einem sehr breiten Nahrungsspektrum - durchaus von ihrem natürlichen Beuteschema ab, erklärt Imm, der über mehr als 20 Jahre Jagderfahrung verfügt. Die Tiere greifen dann auf die nächste, leicht zu erlegende Beute zurück: Mäuse zum Beispiel, Hasen oder Aas. Die jungen Mädchen aus der Sage dürften ebenfalls dazu gezählt haben. "Das ein Wolf einen Menschen gefressen hat, halte ich jedoch für sehr unwahrscheinlich", so der 57-Jährige, "dass die Mädchen von einem tollwütigen Wolf gebissen wurden, ist schon eher denkbar."

Vielleicht hat enormer Hunger jedoch eine Rolle in einer weiteren Sage gespielt, die Johann Wimmer für das Heimatheft Erdinger Land gesammelt hat: "In Jahre 1650, als in unserer Gegend noch dichte Wälder standen, ging ein Mädchen vom Myrtenhof nach Holzhausen in die Spinnstube, so wie es damals nach einem mit Arbeit ausgefüllten Tag der Brauch war. Kaum war sie ein Stück des Weges gegangen, als sie von einem hungrigen Wolf überfallen wurde. Das Mädchen, nur die Spindel in ihrer Hand haltend, konnte sich nicht zur Wehr setzen. Das fromme Kind hat sich nur dem Schutze der Gottesmutter anempfohlen und wurde betend vom Wolf gefressen. Heute befindet sich an diese Stelle noch ein Marterl mit der Jahreszahl 1650 und der Illustration dieses traurigen Geschehens." 1650 war der Dreißigjährige Krieg gerade vorüber, auch in Bayern gab es etliche Gefechte. Es ist ein gut denkbares Szenario, dass die geschundenen Menschen die Wälder von Wild leerten - und die Wölfe Hunger hatten.

"Heute muss kein Wanderer Angst vorm Wolf haben. In Bayern gibt es noch keinen standort-treuen Wolf, nur einzelne durchziehende Tiere. Und wenn man sich diesen gegenüber richtig verhält, wird nichts passieren, ebenso wenig wie bei den in Bayern schon immer ansässigen Wildschweinen", beruhigt Imm, der empfiehlt, sich bei einer Wolfsbegegnung wie jedem anderen Wildtier gegenüber respektvoll zu verhalten. Auf keinen Fall weglaufen.

So ruhig wie das Mädchen in der Sage von 1650 sollte es aber auch nicht sein: "Kommt das Tier zu nah, einfach laut in die Hände klatschen." Wildtiere werden meist nur dann zudringlich, wenn sie zuvor angefüttert wurden: "Dann verbinden sie eine Plastiktüte in der Hand des Menschen leicht mit Nahrung. Diese Erfahrung machte schon mancher Pilzsammler", so Imm. Bei vier von neun der tödlichen Wolfsattacken, die in den vergangenen 50 Jahren in Europa verzeichnetet wurden, waren die Tiere zuvor über längere Zeit angefüttert wurden.

In Erding, dem waldärmsten Landkreis Bayerns, wird sich so schnell wohl kein Wolfsrudel ansiedeln; gesichtet wurden die Tiere in jüngster Vergangenheit aber auch hier. Anfang April 2014 streifte ein einzelner Rüde auf der Suche nach einem eigenen Territorium durch den Landkreis. Auf einem Acker bei Lengdorf in der Nähe von Dorfen lief er zwei jungen Frauen vor die Linse - 150 Jahre, nachdem der letzte Wolf im Landkreis geschossen wurde. Vermutlich kam er aus den Südwestalpen, keine weite Strecke für einen Wolf auf Reviersuche. Er ist einer von vielen Vorboten für die Rückkehr des Wolfes nach Bayern. Der Freistaat ist umgeben von Ländern mit Populationen und deshalb "Wolfserwartungsland". In den vergangenen Jahren haben sich die Meldungen von Wolfssichtungen im Freistaat gehäuft. So lief erst im November ein Tier einer automatischen Kamera nahe Memmingen im Unterallgäu vor die Linse: "Es würde mich nicht wundern, wenn sich im nächsten Jahr im Bayerischen Wald ein Wolfspaar ansiedelt."

Er verweist darauf, dass selbst dann, wenn sich wieder Wölfe in Bayern ansiedeln, niemand um sein Leben fürchten muss. Jedoch könnten Hunde ein Thema werden, sagt der Naturschutzreferent: "Wölfe sind territoriale Tiere, die einen frei laufenden Hund als Eindringling betrachten und ihn angreifen."

© SZ vom 10.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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