SZ-Serie "Reife(n)prüfung":"Da schmeißt es einen hoffnungslos"

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Täglich kommen im Landkreis Fahrradfahrer bei Unfällen zu Schaden. Die Verursacher sind sie häufig selbst. Experten fordern mehr Aufmerksamkeit von Autofahrern - und mehr Investitionen in die Sicherheit

Von Patrik Stäbler, Landkreis

Es dämmert schon an die-sem tristen Märzabend, als der 17-jährige Schüler aus dem Landkreis den Ortsrand von Höhenkirchen erreicht. Mit seinem Rad fährt er die Luitpoldstraße hinab, erreicht die Münchner Straße und will diese überqueren. Dort wiederum wartet auf der Linksabbiegerspur ein Autofahrer, der dem Teenager per Handzeichen signalisiert: Ich lass dich rüber. Was beide in diesem Moment weder ahnen noch sehen: Von hinten braust ein weiterer Wagen auf der Münchner Straße heran, dessen Fahrer geradeaus über die Kreuzung will. Im nächsten Augenblick rauscht das Auto rechts an dem stehenden Fahrzeug vorbei und erwischt mit voller Wucht den 17-Jährigen, der zwischenzeitlich auf die Straße gefahren ist. Der Jugendliche wird durch den Aufprall auf den Grünstreifen geschleudert; noch an der Unfallstelle erliegt er seinen schweren Verletzungen.

Das tragische Unglück in Höhenkirchen ist heuer bislang der einzige Verkehrsunfall im Landkreis, bei dem ein Radfahrer sein Leben verloren hat. Dabei sind zwischen Unterschleißheim und Sauerlach derartige Zwischenfälle und Kollisionen an der Tagesordnung, und zwar im Wortsinn: Voriges Jahr zählte die Polizei 387 Unfälle mit Radfahrern - im Schnitt also mehr als einen pro Tag. Wobei die Dunkelziffer noch weit höher liegen dürfte, gibt Benedikt Hihler von der Polizeidirektion München zu bedenken: "Viele Kleinunfälle und Alleinunfälle, bei denen Radfahrer zum Beispiel stürzen, werden von uns nicht erfasst, weil wir davon gar nicht erfahren."

Auch im Landkreis München leben Radfahrer teils gefährlich. Bei diesem Unfall im März bei Höhenkirchen-Siegertsbrunn kam ein Schüler ums Leben. (Foto: Claus Schunk)

Dennoch ist besonders eine Zahl erschreckend: Bei den 387 gemeldeten Unfällen wurden 264 Radfahrer verletzt - 62 davon schwer. Zum Vergleich: In demselben Zeitraum zählte die Polizei nur 48 schwer verletzte Autofahrer im Landkreis - bei rund 7000 Unfällen. "Als Radfahrer hat man kein schützendes Blech um sich herum", sagt Hartmut Schüler, der Landkreisbeauftragte des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). "Deshalb sollte man immer defensiv fahren - und mit Fehlern der Autofahrer rechnen."

Schüler selbst, der in Straßlach wohnt, ist noch nie in einen Unfall verwickelt gewesen - und das, obwohl er auf gut 7000 Radkilometer pro Jahr kommt. Etliche brenzlige Situationen hat aber auch der ADFC-Mann schon erlebt. "Ein Hauptproblem im Landkreis", sagt er, "ist das knappe Überholen." Eigentlich müssten Autos einen Abstand von 1,50 Meter halten, wenn sie Radfahrer passieren. "Aber zum Beispiel auf der Staatsstraße 2072 in Straßlach kommt es immer wieder vor, dass Autos dicht an einem vorbeifahren", berichtet Schüler. "Wenn man da erwischt wird, schmeißt es einen hoffnungslos" - oft mit verheerenden Folgen. Der ADFC-Chef sieht hier die Polizei gefordert: "Sie sollte an stark befahrenen Radlstrecken im Landkreis regelmäßig kontrollieren."

Die häufigste Ursache für Fahrradunfälle im Bereich des Polizeipräsidiums München, zu dem auch der Landkreis gehört, ist freilich eine andere: Etwa jeder siebte Vorfall geschieht, weil Auto- oder Lastwagenfahrer beim Rechtsabbiegen den in gleicher Richtung fahrenden Radler übersehen. Ein besonders tragischer Fall ereignete sich im vergangenen Dezember in Ismaning: Da überrollte ein Lkw eine 55-jährige Radfahrerin, als er von der Münchner Straße in die Straße "An der Isarau" abbiegen wollte. Die Frau verstarb noch an der Unfallstelle. Bei diesem landkreisweit einzigen tödlichen Fahrradunfall im Vorjahr trug der Lastwagenfahrer die Schuld - und doch sei das nicht die Regel, sagt Benedikt Hihler von der Polizei.

So wurden im Vorjahr fast 57 Prozent aller Fahrradunfälle im Landkreis von Radlern selbst verursacht. "Der Dauerbrenner", so Hihler, seien dabei sogenannte Geisterradler, also Fahrradfahrer, die in falscher Richtung unterwegs sind, etwa auf dem Radweg. Was zudem oft unterschätzt werde, sei das Thema Alkohol, sagt der Experte. "Das ist leider noch nicht so in den Köpfen drin." Dabei sei Alkohol bei jedem fünften Unfall im Spiel, der von Radfahrern verursacht werde, berichtet Hihler. Und mehr als 40 Prozent aller alkoholisierten Unfallbeteiligten sind Radler.

Immerhin: Die Gesamtzahl der Fahrradunfälle im Landkreis ist in den vergangenen Jahren leicht rückläufig gewesen - und das, obgleich sich immer mehr Menschen immer öfter aufs Rad setzen. Hartmut Schüler vom ADFC unterscheidet dabei im Landkreis zwei Gruppen. Zum einen Freizeitradler, die oft am Wochenende an der Isar oder zum Biergarten fahren - "da gibt es bei uns sehr gute und schöne Möglichkeiten", sagt Schüler. Ganz anders sehe es bei der zweiten Gruppe aus: denjenigen, die das Rad als Autoersatz nutzen, allen voran Pendler. "Hier stehen wir noch relativ am Anfang, was Infrastruktur und Planung angeht", kritisiert Schüler. "Wir vom ADFC fordern schon lange, dass da deutlich mehr Geld reingesteckt werden muss." Denn nur so lasse sich auch das Radfahren im Landkreis sicherer machen, sagt Schüler. "Das hängt direkt miteinander zusammen."

© SZ vom 01.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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