Ottobrunner Kriegsverbrecher:Schuld und Sühne

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Josef Scheungraber streitet seine Schuld bis heute ab. (Foto: Robert Haas)

Auch 70 Jahre nach Kriegsende tut sich die Gemeinde Ottobrunn schwer, auf das italienische Cortona zuzugehen, wo der ehemalige Ehrenbürger Josef Scheungraber ein Massaker zu verantworten hatte.

Von Michael Morosow

Der Efeu hat schon lange Besitz genommen von den kläglichen Resten des Weilers Falzano. Er hatte auch 71 Jahre Zeit, sich um die steinernen Rudimente des Pfarrhauses, der Kirche, der Schmiede, des Bauernhauses, der Schule zu schlingen und die Trümmer der einstigen Ansiedlung unsichtbar zu machen. Fast ebenso lang, wie der Efeu wucherte, schwieg Gino Massetti zu den schrecklichen Geschehnissen vom 27. Juni 1944 und glaubte Josef Scheungraber, die Gerechtigkeit nicht fürchten zu müssen.

Gino Massetti ist der einzige Überlebende des Massakers von Falzano di Cortona, dem 15 Menschen zum Opfer fielen. Josef Scheungraber aus Ottobrunn, damals Ortsteil von Unterhaching, war der Kompaniechef des Mittenwalder Gebirgs-Pionier-Bataillons 818 und hat nach Überzeugung italienischer und deutscher Gerichte den Befehl gegeben, alle männlichen Bewohner von Falzano in das Schulhaus zu sperren und das Gebäude anschließend mit Dynamit in die Luft zu jagen. Aus bloßer Rache für zwei tags zuvor von Partisanen erschossenen Soldaten aus seiner Einheit.

"Sünd und Schande / Bleibt nicht verborgen", heißt es in Goethes Faust. Auch wenn es dauern kann, in diesem Fall ganze 62 Jahre: Ein Militärtribunal in La Spezia verurteilte den heute 96-Jährigen am 28. September 2006 in Abwesenheit zu lebenslanger Haftstrafe. Das Münchner Schwurgericht zog zwei Jahre später mit demselben Urteil nach.

Trotz erdrückender Beweislast hat der Greis seine Schuld bis heute nicht eingestanden. Weil ihm Haftunfähigkeit attestiert wurde, lebt er bis heute zurückgezogen in seiner Heimatgemeinde Ottobrunn, inzwischen erblindet und gebrechlich, wie sein Neffe Heinrich Schwarzmayr beim jüngsten zufälligen Aufeinandertreffen vor wenigen Wochen gesehen haben will. "Das letzte Mal hat er mich auf Anhieb nicht mehr erkannt", erinnert sich der selbständige Landschaftsgärtner.

Die Deutsche Wehrmacht zog im Jahr 1944 eine Blutspur durch Italien. (Foto: Bildarchiv Koblenz)

Bis zum Jahr 2006 hatte er nichts von den Gräueltaten seines Onkels gewusst, nach deren Aufdeckung aber augenblicklich mit ihm gebrochen und damit in Kauf genommen, fürderhin vom Familienverband ausgeschlossen und von der Erbenliste gestrichen zu werden. Auf Abstand zum "Onkel Josef" ist Schwarzmayr schon lange vorher gegangen. 1998 hätten er und seine Mutter Josef Scheungraber von einem Fest zum 80. Geburtstag seines Vaters ausgeladen, nachdem er auf einer Betriebsfeier mit heroischen und markigen Sprüchen über den Krieg geprahlt und die Italiener als "Katzelmacher" verunglimpft habe. "Die Tapferen leben nicht mehr, die Feigen leben noch", soll er unter anderem gesagt haben. Er finde es erbärmlich, dass sein Onkel nach wie vor seine Taten leugne und nicht bereit sei, den Opfern eine angemessene Entschädigung zu zahlen, sagt der Neffe und spricht von einem moralischen Anspruch auf einen Täter-Opfer-Ausgleich, den sich sein Onkel auch leisten könne.

Gabriele Heineke, Vertreterin der Nebenklage, hatte 30 000 Euro für jedes der 15 Opfer ins Gespräch gebracht. "Das wären 450 000 Euro, also 4,5 Prozent seines Vermögens", rechnet der Neffe Schwarzmayr vor. Maßlos enttäuscht ist er auch vom Umgang der politischen Gemeinde Ottobrunn mit den Gräueltaten ihres Bürgers Josef Scheungraber. Eine Städtepartnerschaft mit Cortona, zu dem der Weiler Falzano gehört, wäre für ihn naheliegend, doch auf Gefolgsleute für seine Idee wartet er bis heute.

Honoriger Bürger oder Verbrecher? Die Gemeinde Ottobrunn ist in dieser Frage bis heute zerrissen. Scheungraber war Ehrenkommandant der Freiwilligen Feuerwehr und saß von 1955 bis 1972 für die Parteifreie Wählergemeinschaft (PWG) im Gemeinderat. 2005 wurde ihm wegen besonderer Verdienste die Bürgermedaille verliehen. Nach dem Urteil des Münchner Schwurgerichts hat ihn die Feuerwehr Ottobrunn aus allen Listen gestrichen und ihm das mit der Ehrenmitgliedschaft verbundene Ehrenkommandantenamt aberkannt. "Wenn seine Vorgeschichte früher rausgekommen wäre, hätte er ja gar nicht Feuerwehrmitglied werden dürfen", begründete der damalige Feuerwehrkommandant Eduard Klas diese Entscheidung. Nun war auch der Ältestenrat der Gemeinde - sogar einstimmig - bereit, Scheungraber die Bürgermedaille zu entziehen. Nach dem Urteil von La Spezia hatte man noch keinen Grund dafür gesehen.

Auf Versöhnungskurs: Der frühere Ottobrunner Pfarrer Christoph Nobs und eine Jugendgruppe 2014 vor der Abfahrt nach Cortona. (Foto: Claus Schunk)

"Haben Sie kein anderes Problem?", fragt der Bürgermeister

Am 3. Juni 2008 - vier Monate vor Anklageerhebung in München- hatte Ottobrunns Bürgermeister Thomas Loderer (CSU) noch mit einer "Ehrenerklärung" für Scheungraber aufhorchen lassen, die nicht nur in Cortona ungläubiges Entsetzen hervorgerufen hat. Auszüge daraus: "Ich bin von seiner persönlichen Integrität und von seiner Unschuld überzeugt, und so, wie ich ihn aufgrund meiner Menschenkenntnis einschätze, halte ich seine Aussagen für glaubwürdig." - "Da gerät ein alter Mann in die Mühle hinein." - "Das bestehende Lebenslang-Urteil in Italien ist für mich kein Grund, von der Unschuldsvermutung abzuweichen - das ist nämlich kein Verfahren gewesen, das unseren rechtsstaatlichen Kriterien genügt." Auch nach dem Urteil des Schwurgerichts distanzierte sich Loderer nicht von seiner Ehrenerklärung, bis heute hat er das nicht getan. "Haben Sie kein anderes Problem? Lassen Sie mich damit bitte in Ruhe", sagte Loderer zuletzt vor einem Jahr auf SZ-Anfrage.

Den Versuch zur gemeinsamen Friedensbewegung unternehmen derweil andere. Schon dreimal reisten Delegationen aus Ottobrunn nach Cortona, zum Jahrestag des Massakers oder zum italienischen Nationalfeiertag am 2. Juni. Jedes Mal gehörte die SPD-Gemeinderätin Ruth Markwart-Kunas zur Reisegruppe. Stets waren drei, vier Gemeinderäte von SPD, Grünen, FDP oder ÖDP dabei, aber nie Vertreter von CSU oder der Bürgervereinigung BVO.

Sie habe nie im Namen der Gemeinde Ottobrunn sprechen können, bedauert Markwart-Kunas. Im Vorjahr hatte die Fahrt der Pfarrverband "Vier Brunnen" organisiert, Jugendliche aus Ottobrunn waren dabei, Schüler der Münchner Romano-Guardini-Fachoberschule, Heinrich Schwarzmayr, der Autor Alessandro Eugeni und Pfarrer Christoph Nobs, der ein Schreiben von Bürgermeister Loderer im Gepäck hatte - gerichtet jedoch nicht an den Bürgermeister von Cortona, sondern an die Pfarrei Parroco des Santuario die Santa Maria delle Grazie in Cortona. "Mit seinen Mitmenschen zu trauern, ist sicherlich die intensivste Form der Versöhnung, aus der Freundschaft erwachsen kann", steht unter anderem in dem Brief.

Wie beglückend und erhaben ein Akt der Versöhnung sein kann, darüber berichtete Alessandro Eugeni vor wenigen Wochen in Haar, wo er sein Buch "Insieme - Zusammen" vorstellte, eine Fortschreibung seines Werkes "Der Schreiner von Ottobrunn". Darin schildert Eugeni die Begegnungen der Jugendlichen mit den Hinterbliebenen: "Es war ein Wunder, was an diesem Tag passierte", sagte Eugeni und sprach damit die Tatsache an, dass zwei Pfarrer aus Deutschland und Italien gemeinsam eine Messe zelebrierten am Ort des Kriegsverbrechens. Am 1. Juni fährt abermals eine Jugendgruppe nach Cortona, wiederum ist der Pfarrverband Veranstalter. "Nein, er fahre nicht mit, er wisse von der Reise überhaupt nichts", sagte am Freitag Thomas Loderer.

Exekutionen nach Partisanenangriffen, wie im Weiler Falzano die Cortona geschehen, standen auf der Tagesordnung. (Foto: Julius Müller-Meiningen)

"Heute habe ich allen Verantwortlichen verziehen", sagt der einzige Überlebende des Massakers, der damals 15-jährige Bub Gino Massetti. Neben Josef Scheungraber ist er wohl der einzige Mensch auf dieser Welt, der von den schauderhaften Ereignissen berichten kann, die sich an jenem Junitag vor 71 Jahren zugetragen haben. Der 27. Juni war ein sonniger Dienstag. Sieben Tage zuvor hatte Generalfeldmarschall Albert Kesselring, Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in Italien, als Reaktion auf häufige Partisanenangriffe gegen deutsche Soldaten Hitlers Bandenbekämpfungsbefehle aus dem Jahr 1942 erweitert. Vorauseilend gehorsam verlangte er nicht nur schärfstes Durchgreifen selbst gegen Frauen und Kinder, er sicherte allen an den Morden Beteiligten auch Straffreiheit zu.

Das Gebirgs-Pionier-Bataillon 818, bestehend aus zwei Kompanien mit etwa 150 Mann, war unter Scheungrabers Kommando im Juni 1944 in Cortona stationiert. Hauptaufgabe war die Sicherung des Rückzuges und die Instandsetzung von Brücken und Wegen. Am 26. Juni 1944 erteilte der Kommandeur drei seiner Soldaten den Befehl, im nahen Minimella-Tal ein Fuhrwerk samt Pferd zu requirieren. Die bettelarmen Bauern riefen in ihrer Not die Partisanen zu Hilfe, die die Deutschen auf dem Rückweg angriffen. Sie erschossen einen Unteroffizier und einen Gefreiten. Einem Dritten gelang, von einer Gewehrkugel getroffen, die Flucht. Tags darauf stand in Falzano kein Stein mehr auf dem anderen.

Scheungraber erzählt gleich zwei Versionen der Geschichte

Was an diesem 27. Juni 1944 genau geschah, darüber hatte Josef Scheungraber gleich zwei Versionen parat. Die erste, 2008 protokolliert von einem Beamten des Landeskriminalamtes Bayern: Er habe den Bürgermeister des Ortes aufgefordert, die Bewohner auf die Straße zu jagen. Diejenigen, die der Bürgermeister kenne, sollten auf die eine Seite der Straße treten, diejenigen, die ihm unbekannt seien, sollten sich gegenüber aufstellen. Was mit den Partisanen passiert sei, wisse er nicht. Das Gericht sah es jedoch schnell als erwiesen an, dass die Partisanen zu diesem Zeitpunkt bereits über alle Berge waren, mithin die Wehrmachtssoldaten ausschließlich harmlose Dorfbewohner ermordeten.

Vor Gericht wartete Scheungraber dann mit einer komplett neuen Version auf: Er sei an diesem Tag überhaupt nicht in der Gegend gewesen, habe also weder etwas gesehen noch gehört, auch das Donnern der Sprengung nicht, das laut Zeugenaussagen im Umkreis von einem Kilometer zu hören war. Erst Tage später sei ihm von der Bluttat in Falzano berichtet worden. Richter Manfred Götzl glaubte ihm nicht: Gebäude sind in die Luft gesprengt worden, und Sie wollen nichts mitbekommen haben?", fragte der Richter. Die Ermittler haben konstruiert, dass Angehörige des Bataillons am Vormittag des 27. Juni die Landbevölkerung, vor allem die Männer aus der Gegend, zusammentrieben. Als einige zu fliehen versuchten, erschossen die Soldaten vier Menschen, unter ihnen eine 74-jährige Bäuerin. Gino Massetti wird mit zehn anderen Männern im Erdgeschoss des Schulhauses von Falzano eingesperrt. Nur den Stuhlflechter Daipra, der deutsch spricht, lassen die Soldaten vorher frei.

Im ganzen Dorf wimmelt es inzwischen von Angehörigen der Wehrmacht. Es ist etwa 15 Uhr. Massetti sieht durch die Schlitze der verriegelten Tür, wie die Soldaten Kisten mit Dynamit in die erste Etage des Schulhauses schaffen. Dann hören die Gefangenen, wie die Deutschen ein Nachbargebäude nach dem anderen in die Luft jagen. Erst das Pfarrhaus, dann die Kirche, die Schmiede, ein Bauernhaus, einen Holzturm und die Brücke in der Mitte von Falzano. Die Gefangenen können sich ausrechnen, was passieren wird. "Nach ungefähr drei Minuten fand ich mich unter den Gesteinstrümmern der Schule wieder", heißt es im Protokoll, das Gino Massetti im Oktober 1944 der Polizei diktierte. Ein schwerer Balken und der Leichnam eines anderen Opfers, der von der Wucht der Explosion über ihn geschleudert wurde, verhinderten, dass die Gesteinsbrocken den Jungen erschlagen. Am Abend hörte eine Passantin Ginos Hilferufe und zog in aus den Trümmern. Er war fast unverletzt, im Gesicht und am rechten Bein schmerzten ein paar Brandwunden, mehr nicht. "Ich habe so viel Glück gehabt, sagt Massetti, der heute als Pensionär in Cortona lebt.

© SZ vom 09.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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