Mitten in Oberhaching:Allianz der Impfwilligen

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Zwischen vermeintlichen Impfvordränglern und glücklichen Seniorinnen: Impressionen aus dem Wartezimmer

Glosse von Michael Morosow

Im Wartezimmer des Hausarztes: Gewöhnlich sitzen hier die geschwollene Leber, der verdorbene Magen, der verstauchte Fuß und andere malträtierte Körperteile Stuhl an Stuhl. Dieses Mal ist es eine Leidensgemeinschaft im fortgeschrittenen Alter mit zwei identischen Wehwehen: Angst vor dem schrecklichen Coronavirus und Fernweh. Wie beruhigend, dass es eine Spritze gegen beides gibt. Wie angenehm, dass man jetzt selbst gleich an der Reihe ist. Wie erbaulich, dass die Normalität im Lande tröpfchenweise zurückkommen wird. Es ist eine Allianz der Willigen, die sich Biontech in den Oberarm spritzen lässt. Es ist auch eine Allianz der Vernunft, deren Sorge vor einer womöglich todbringenden Virusinfektion wesentlich größer ist als die vor einem Impfschaden. Viel größer noch als vor der Gefahr, dass bei der Impfung gleichzeitig ein von Bill Gates entwickeltes Mikrochip-Implantat in den Körper eingepflanzt wird, damit er die Menschheit besser bespitzeln kann, wovon die wahren Kenner der Materie immer noch überzeugt sind.

Ein junger Mann wird aufgerufen. Fragende Blicke unter den Alliierten. Welches Argument könnte wohl dafür sprechen, dass der Kerl jetzt schon geimpft wird? Pflegt er seine Oma? Hat er eine Vorerkrankung? Oder ist es ein rücksichtsloser Vordrängler, der sich eine Impfdosis erschleicht, um schnellstens zum Ballermann zu kommen? Man denkt an die Geschichte einer Nachbarin in Oberhaching, die, obwohl in Impfkategorie zwei gelistet, erst nach ihrem kerngesunden Sohn einen Impftermin bekommen hat. Und was sonst noch alles hinter vorgehaltener Maske an Ungerechtigkeiten in der Impfreihenfolge kolportiert wird. "Ihr Rezept, wegen der Blutwerte können Sie morgen anrufen", sagt die Ärztin zum Jungspund. Also doch alles in Ordnung.

Eine Frau Mitte 60 kommt sichtbar glücklich zurück ins Wartezimmer. Die Spritze hat bereits gewirkt. Zwar nicht in der Weise, dass sie bereits immun gegen das Virus sei, aber in moralischer Hinsicht. Ihr Handy klingelt. Erstes Update von Bill Gates? Er könne sie jetzt abholen, sagt sie zu ihrem Mann. Inzwischen herrscht drangvolle Enge in der Arztpraxis, schnell die Spritze und dann nichts wie weg, hat man doch eben von der Ärztin ans Herz gelegt bekommen, weiterhin alle Vorsichtsmaßnahmen beizubehalten, weil der Impfschutz erst nach zwei, drei Wochen gegeben sei. Ein stichhaltiges Argument.

© SZ vom 19.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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