Mitten in Haar:Auf den Stau ist Verlass

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Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Deshalb weckt eine Rushhour vor der Sperrstunde fast ein Gefühl von Vertrautheit

Glosse von Martin Mühlfenzl

Heiligabend, 20.50 Uhr, mitten auf der B 304 in Haar. Es staut sich. Eigentlich beginnt der Stau schon am Autobahnkreuz München-Ost, im Stop-and-go-Tempo geht es Richtung Landeshauptstadt. Im bayerischen Informationsradio wägt ein Experte im Jahresrückblick derweil ab, ob die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ein Erfolg gewesen ist oder nicht - und er blickt auf das Ende der Ära Merkel voraus. Ende der Ära Merkel? Im Stau kommt einem der Gedanke, dass dies doch ein wenig surreal klingt nach nun schon mehr als 15 Jahren Merkelscher Kanzlerschaft. So sehr hat man sich daran gewöhnt.

Der Deutsche ist ein Gewohnheitstier. Kaffee am Morgen, um 20 Uhr Tagesschau, um 15.30 Uhr Bundesliga, im Kanzleramt Angela Merkel und am Abend nach der Arbeit im Stau stehen. Aber manchmal muss er sich umgewöhnen und hin und wieder gelingt ihm das auch; so wie nach 16 Jahren Helmut Kohl, als der Genosse der Bosse die Amtsgeschäfte übernahm. Und in diesen Tagen muss er sich eben damit arrangieren, nicht mehr um 18 Uhr, sondern etwas später - kurz vor 21 Uhr - im Stau zu stehen. Der Grund ist ein sehr einfacher und hängt mit einem Begriff zusammen, von dem wohl kaum einer je geglaubt hätte, er müsse ihn in seinen Sprachgebrauch aufnehmen: Ausgangssperre. Um 21 Uhr macht das Land in diesen Tagen dicht, raus darf danach nur noch, wer einen triftigen Grund hat. Und wer den nicht hat, bemüht sich nach dem Besuch bei Verwandten oder einem Ausflug ins Grüne schnell nach Hause zu kommen, ehe die Schotten dicht gemacht werden.

Nein, an die Ausgangssperre will sich wirklich niemand gewöhnen - und sie wird auch wieder enden, wenn dieses bösartige Virus den Alltag nicht mehr dominiert. Vielleicht schon im Frühjahr, im Sommer oder auch erst im Herbst. Wenn die Blätter fallen, die Impfzentren noch immer auf Hochtouren arbeiten - und sich die Kanzlerschaft Angela Merkels ihrem Ende entgegen neigt. Dann werden sich die Deutschen mit einem neuen Kanzler (oder einer Kanzlerin) arrangieren müssen. Der Stau aber wird bleiben.

© SZ vom 29.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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