Lebenserinnerungen:Der Vitsche

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Warum der Heimstettener See nicht nach einer Südseeinsel benannt ist, sondern nach einem italienischen Arbeiter

Fidschi oder gar Fiji? Elfriede Ziegler, 91, aus Vaterstetten weiß, wie der Heimstettener See im Volksmund richtig heißt und woher der ungewöhnliche Name stammt. Der folgende Text ist ihren Lebenserinnerungen entnommen.

Nördlich der Bahnstrecke nach Markt Schwaben, zwischen Feldkirchen und Heimstetten, liegt der bei Badefreudigen sehr beliebte "Vitsche". Seit das Gebiet zu einem Bade- und Erholungszentrum ausgebaut wurde, heißt er offiziell "Heimstettener See". Er ist und bleibt aber doch der "Vitsche".

Ein eigenartiger Name!

Während meiner Kinder- und Jugendzeit, in den dreißiger- und vierziger Jahren, waren die Bademöglichkeiten in unserer Gegend rar. Außer dem Freibad in Haar und dem für uns weit entfernten Steinsee, gab es noch einen Baggersee bei Feldkirchen, den jetzigen "Vitsche". Dieser Name entstand erst in neuerer Zeit, wie heutzutage gerne alles abgekürzt und vereinfacht wird. Zur damaligen Zeit war es noch der "Vilatschko". Aber so wie im Baierischen aus einem "Alfons" ein "Fonsä" wird, so wurde aus dem "Vilatschko" eben der "Vidschä".

Der "Vilatschko" war kein richtiger Badesee. Es handelte sich dabei nur um beim Kiesabbau freigelegtes Grundwasser. Wir gingen zum Vilatschko baden, weil es dort nichts kostete. Der See hatte den Nachteil, dass er sehr kalt und für Nichtschwimmer kaum geeignet war. Durch den terrassenförmigen Kiesabbau fiel der Grund an manchen Stellen jäh ab, sodass man plötzlich den Halt unter den Füßen verlor. Es gab auch nichts, was man als Strand bezeichnen hätte können.

Einen Teil des Ufers beherrschte vielmehr ein Bagger, ein eisernes Ungetüm, mit dem vor langer Zeit Kies herausgeschaufelt worden war und der jetzt still vor sich hinrostete. Man warnte uns immer wieder eindringlich davor, diese Maschine zu besteigen oder gar davon herunterzuspringen, denn überall ragten Eisenteile aus dem Wasser und es gab an manchen Stellen Untiefen. Die Unfallgefahr war groß und es passierte so manches. Bei den Alten hatte das Gewässer keinen guten Ruf, es galt als gefährlich. Wir konnten es nicht glauben und gingen trotzdem immer wieder zum "Vilatschko".

Woher kam wohl dieser sonderbare Name?

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, in der Zeit um den Ersten Weltkrieg, war es bei den Bauern in Feldkirchen üblich, an heißen Sommertagen, abends zu Erfrischung nach der schweren Arbeit die Pferde zur "Schwemm" zu bringen. Als "Schwemm" diente der Grundwassertümpel in einer Kiesgrube, etwas außerhalb des Ortes, am Bahngleis und dem nach Heimstetten führenden Weg gelegen, unweit der alten "St. Emmeramskapelle". Oft setzten sich die Knechte, von denen kaum einer schwimmen konnte, auf den Rücken der schweren Ackergäule und ließen sich von ihnen ins Wasser tragen. So ist es einmal passiert, dass es einer der Männer mit der Angst zu tun bekam, als sich sein Pferd zum Schwimmen anschickte und dabei etwas tiefer ins Wasser tauchte. Schnell glitt er von seinem Rücken herab, wollte sich noch am Halfter festhalten, wurde dabei aber vermutlich von einem Huf getroffen und versank. Keiner konnte ihm helfen. Er musste ertrinken.

Lange Zeit näherte man sich ungern dem Tümpel. Als "Schwemm" war er sowieso von untergeordneter Bedeutung. Im Vordergrund stand in dieser Grube die Kiesgewinnung. Nachdem größere Mengen Kies benötigt wurden, durch den hohen Grundwasserspiegel der Abbau von Hand aber mit der Zeit immer schwieriger wurde, entschloss man sich, einen neuartigen Schaufelbagger anzuschaffen. Bedient wurde das moderne Gerät von einem extra ausgebildeten Monteur, einem Italiener namens "Velasco". Er arbeitete tagaus tagein alleine in der Kiesgrube, vermutlich hatte er dort auch eine primitive Unterkunft. Die wenigen Leute, die vorbeikamen, wenn sie aufs Feld gingen, oder weil sie neugierig auf die Maschine waren, nannten ihn "Vilatschko". Das behagt der bayerischen Zunge besser als "Velasko". Die Leute sprachen allmählich nicht mehr von der "Schwemm", sondern sie sagten "beim Vilatschko draußen".

Eines Tages geriet der "Velasco" mit dem Fuß ins Räderwerk seiner Maschine und verletzte sich schwer. Nachdem nicht zu erwarten war, dass jemand vorbeikommen würde, schleppte er sich schwerverletzt bis zum Bahnwärter in Feldkirchen, dem ihm am nächsten gelegenen Menschen, vor dem er dann bewusstlos zusammenbrach. In der Folge konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben und auch der Kiesabbau wurde eingestellt. Die Leute sagten jedoch auch weiterhin, wenn sie die Kiesgrube meinten "beim Vilatschko".

Heute kommt sonnenhungriges Volk von weit her, um sich am "Heimstettener See" zu vergnügen und den Badefreuden hinzugeben. Man fährt vielleicht auch die "Velaskostraße" entlang, ohne einen Zusammenhang zu finden. Manch einer wird sich möglicherweise wundern, warum die Einheimischen den vermeintlich neu angelegten See "Vitsche" (Vidschä) nennen, und sie fangen schon an, die bayerische Aussprache zu korrigieren und ihm die Schreibweise "Fidschi" oder gar "Fiji" aufzudrängen, in der Hoffnung, damit dem Freizeitgelände südpazifisches Flair zu verleihen. Doch könnte der See sprechen, würde er wohl dazu sagen: "Auf sowas bin i net o'gwiesn, i hob mei eigene, ganz spezielle Gschicht!"

© SZ vom 08.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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