Kulturelle Höhepunkte:Der Wert der Fantasie

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Die Kulturszene profitiert von großen Namen, aber auch von Laien und Kreativen aus der Region - sowie Investitionen in neue Stätten

Von Christina Hertel

Auf Sulawesi, einer indonesischen Insel im Pazifik, wo das Wasser so türkis ist und der Sand so weiß, dass man meinen könnte, man sei in einer überdimensionierten Fototapete gelandet, machten Archäologen vor kurzem einen spektakulären Fund: Sie entdeckten das älteste bislang bekannte gegenständliche Kunstwerk - eine Felsmalerei aus dunkelroter Farbe, Jäger mit Tierköpfen und menschlichen Körpern, entstanden vor etwa 44 000 Jahren. Manche Wissenschaftler sehen in der Darstellung dieser Hybridwesen den Beweis, dass der Mensch schon damals fähig war, sich Dinge vorzustellen, abstrakt zu denken und künstlerisch etwas zu schaffen.

Rund um München gibt es keine solchen Felsmalereien, die zeigen, dass der Mensch von Natur aus ein kulturelles Wesen ist. Doch auch von Grünwald bis Garching ist es Konsens, dass Kunst nicht bloß zu einer Gesellschaft dazu gehört, sondern einen hohen Stellenwert besitzt, den es zu fördern gilt. Das ist zum Beispiel daran erkennbar, wie viel Geld Kommunen im vergangenen Jahr in ihre Kulturbauten steckten: Garching sanierte für mehr als zehn Millionen Euro sein Bürgerhaus und gab damit mehr als doppelt so viel aus wie ursprünglich geplant.

Die Neuerungen seien, wie der Garchinger Kulturreferent Thomas Gotterbarm bei einer Führung über die Baustelle sagte, für das Publikum zwar an den meisten Stellen nicht zu sehen, aber zu spüren: Neue Dämmungen und neue Lüftungen waren notwendig, damit das Publikum im Sommer nicht mehr schwitzend in einem stickigen Saal sitzen muss. Zum ersten Mal konnten sich die Zuschauer von der neuen Technik im Mai bei der Eröffnung überzeugen. Damals trat das Trio Starbugs Comedy mit einer Akrobatik-Show auf, obwohl die Bauarbeiten noch nicht ganz fertig waren. Auch Ismaning steckte Hunderttausende Euro mehr in die Sanierung des Bürgersaals, als anfangs angenommen. Und in Kirchheim steht spätestens seit diesem Jahr endgültig fest, dass in der neuen Ortsmitte die Kultur ein Zuhause braucht. Die Gemeinde entschied sich dafür, dort den neuen Park und das neue Rathaus so zu gestalten, dass nicht nur genügend Platz für ein Bürgerhaus wäre, sondern dass sich dieses geradezu aufdrängt. Fehlt es, entsteht an dieser Stelle eine eigenartige Lücke.

In anderen Gemeinden gehören solche Veranstaltungssäle schon lange zum Ortsbild. In Unterhaching wurde das Kultur- und Bildungszentrum heuer 30 Jahre alt und feierte das an zwei Tagen: Im Oktober führte die Musikbühne Mannheim einen Abend voller musikalischer Evergreens auf, von "Phantom der Oper" bis Hildegard Knef; im November gab es anlässlich des Jubiläums einen Festakt. Grund zum Feiern gab es für die Gemeinde auch, weil Kulturamtsleiterin Ursula Maier-Eichhorn dort etwas schafft, von dem so mancher Theaterintendant in München nur träumen kann: Ihr Haus ist seit 30 Jahren, seitdem sie das Programm kuratiert, meistens voll, die Karten oft ausverkauft.

Besondere Elemente im Ismaninger Kallmann-Museum. (Foto: Robert Haas)

Freilich ist der Wert von Kultur nichts, was sich alleine in dem dafür ausgegebenen Geld oder verkauften Tickets messen ließe. "Kunst kommt von Können, nicht von Wollen: Sonst hieß es Wulst" - schrieb etwa der Autor Ludwig Fulda Ende des 19. Jahrhunderts in einem ironischen Gedicht. Um sich von dem Können hochkarätiger Musiker zu überzeugen, mussten auch 2019 die Bewohner nicht in die Stadt pendeln: In Grünwald und Pullach traten preisgekrönte und international bekannte Ensembles wie das "Jerusalem Quartet" auf. Sogar die New York Times lobte einmal die Präzision und die Wärme der israelischen Streicher. Beim Jazz-Weekend in Unterföhring im August konnte das Publikum den Pianisten Chucho Valdés, einem sechsfachen Grammy-Gewinner, zuhören.

So wie Jazz keine Musikrichtung ist, die besonders leicht zugänglich wäre, trauten sich auch andere Kommunen, ein Risiko einzugehen und Kunst zu zeigen, die sicherlich nicht allen gefiel und vielleicht sogar ein wenig provozierte: Gleich zu Beginn des Jahres führte die "Münchner Volkssängerbühne" in Haar ihr neues Stück auf, in dem König Ludwig als schwuler Vampir zu sehen war. Im Herbst zeigte Unterföhring "Das Leben Eduards II. von England", ein unbekanntes Brecht-Stück, das die tragische Liebe zweier Männer thematisierte und das Publikum darüber nachdenken ließ, wie die Gesellschaft heute mit Homosexualität umgeht. Dass es bei Kunst auch darum geht, den Betrachter herauszufordern und aufzurütteln, konnten auch die Besucher des Kallmann-Museums in Ismaning bei verschiedenen Ausstellungen erleben: Der Münchner Künstler Markus Heinsdorff machte beispielsweise mit beeindruckenden Installationen auf die Erderwärmung aufmerksam. Er baute dafür einen fast drei Meter hohen, aus 96 dreieckigen Holzplatten bestehenden Windraum auf, in dem künstlichem Nebel einen Wirbelsturm erzeugt. Dieser fiel nach kurzer Zeit in sich zusammen, um sich zugleich in variierender Form neu zu bilden.

Sängerinnen beim Freischütz in Oberhaching. (Foto: Claus Schunk)

Momente, die bei dem Publikum in Erinnerung bleiben werden, schufen im vergangenen Jahr aber nicht nur professionelle Künstler, sondern vor allem auch Kulturschaffende aus der Region, die dafür ihre Freizeit aufwenden: Im Juli verwandelten Profis und Laien eine Maschinenhalle in Oberhaching in ein Opernhaus. 60 Sänger und 40 Musikanten, von denen die meisten aus Oberhaching stammen, brachten dort den Opernklassiker "Der Freischütz" von Carl Maria von Weber auf die Bühne. Regie führte die Musiklehrerin Ricarda Geary, die seit 2012 bei solchen Opernproduktionen regelmäßig gefühlt die eine Hälfte der Gemeinde auf die Bühne und die andere Hälfte in den Zuschauersaal lockt.

Daran, Leuten die Scheu zu nehmen, die Kunst bislang als etwas betrachten, das ausschließlich für einen eingeweihten Kreis aus Rotwein trinkenden Feuilleton-Lesern gemacht ist, arbeitet auch Eva Hoffmann. Seit diesem Jahr leitet sie den Ottobrunner Kunstverein und veränderte dort bereits jetzt einiges. Im Herbst organisierte sie zum ersten Mal, dass Maler, Bildhauer, Grafiker und Fotografen in den Arkadengängen rund ums Rathaus ihre Werke ausstellen konnten, und brachte so Kunstwerke aus der Galerie in den Ort.

Dass Kunst die Macht hat, etwas in der Welt zu verändern, zeigte 2019 eine Gruppe junger Filmemacher aus Taufkirchen, die sich Movie Jam Studios nennen. Bereits seit einigen Jahren drehen sie Filme, die immer eine Mischung aus Experteninterviews und geschauspielten Szenen sind und die immer gesellschaftliche relevante Themen behandeln. Bereits 2018 wurden sie dafür mit dem Tassilo-Preis der Süddeutschen Zeitung ausgezeichnet, doch wohl noch nie haben die sechs jungen Männer mit ihrer Arbeit so viel erreicht wie in diesem Jahr.

Im Frühling brachten sie "Grau ist keine Farbe", einen Film über Depression unter Jugendlichen, ins Kino und gleichzeitig eine Petition in den Landtag ein. Sie sammelten dafür online mehr als 42 000 Unterschriften und bekamen eine so breite politische Unterstützung, dass der bayerische Bildungsminister Michael Piazolo (Freie Wähler) im Sommer einen Zehn-Punkte-Plan verfasste. Dieser soll dazu beitragen, dass Schulen das Thema Depression unter Jugendlichen ernster nehmen. Zufrieden sind Movie Jam Studios mit der Umsetzung zwar noch nicht, doch so oder so: Es gelang es ihnen, Aufmerksamkeit für ein Thema zu generieren, das bislang kaum beachtet wird.

Kunst ist - das konnte man 2019 im Landkreis in Maschinenhallen, Theatersälen und Galerien bestaunen - Handwerk, aber auch eine Idee, erhebend, verstörend, mächtig. Vor allem aber ist ihr Ursprung eine Fantasie, die in den Menschen steckt - möglicherweise schon seit mehr als 40 000 Jahren.

© SZ vom 30.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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