Kriegsflüchtlinge:Mit dem Trauma allein

Lesezeit: 5 min

Jamal Hazin (re.) ist Sozialpädagoge. Er betreut Flüchtlinge, die traumatisiert sind. Hazin ist froh, wenn er einen Therapieplatz findet, denn es fehlen Ärzte und Psychologen, die sich auf Traumata spezialisiert haben. (Foto: Robert Haas)

Drei von vier Geflüchtete aus Kriegsgebieten bräuchten psychologische Hilfe. Doch Therapieplätze sind rar. Bei der Caritas in Unterschleißheim steht ein Sozialpädagoge Männern wie dem 22-jährigen Walid aus Afghanistan bei

Von Christina Hertel, Unterschleißheim

"Wenn ich die Augen schließe, sehe ich immer nur Blut", sagt Walid. Er fährt mit seiner Hand über die Kehle, über den Ellenbogen, über das Knie, als würde er ein Messer halten. "Kopf ab. Arme ab. Beine ab." Er schließt die Augen. "Ich habe so viel Blut gesehen." Walid ist 22 Jahre alt und flüchtete aus Afghanistan. Er sagt, er habe beobachtet, wie Autos und Lastwagen explodierten, wie Sprengstoff Menschen zerfetzte, wie Trümmer und Körperteile von Kindern, Männern, Frauen durch die Straßen flogen. Mit diesen Bildern kommt er so schwer zurecht, dass er glaubte, nicht mehr weiterleben zu können und manchmal immer noch daran zweifelt. An seinen Unterarmen sind viele dünne Narben - Schnitt neben Schnitt.

Walid heißt eigentlich anders, doch weil sein Asylantrag abgelehnt wurde und er nun dagegen klagt, möchte er nicht, dass sein richtiger Name in der Zeitung steht. Seine Geschichte erzählt er in einem Besprechungszimmer der Caritas in Unterschleißheim. Neben ihm sitzt Jamal Hazin, ein Sozialpädagoge. Er berät Flüchtlinge, die traumatisiert sind und psychische Probleme haben - etwa 90 seit 2017, fast alles Männer unter 40, die meisten haben einen negativen Asylbescheid. Sie leben in Unterschleißheim oder Garching, flohen aus Afghanistan, Syrien, Eritrea und Somalia. Etwa zehn Prozent seiner Klienten, schätzt Hazin, hat einen Suizidversuch hinter sich oder diesen ernsthaft geplant. Fast ein Drittel habe Selbstmordgedanken.

Einer von ihnen ist Walid - ein Mann, der einen selten anschaut und wenn doch die meiste Zeit mit großen, weiten Augen. "Ich habe Stress in meinem Kopf." Das sagt er ein paar Mal, dann tippt er mit dem Zeigefinger gegen seine Schläfe. Seitdem Walid in Deutschland lebt, versuchte er zweimal, sich umzubringen, zweimal entließen ihn die Ärzte nach ein paar Wochen aus einer Klinik zurück in seine Asylunterkunft. Er bekommt Tabletten, aber keine Therapie. Walid sagt: "Wenn sie mich abschieben, versuche ich es noch einmal. Und dann klappt es."

Drei von vier Kriegsflüchtlingen sind wie Walid traumatisiert - davon geht das Wissenschaftliche Institut der AOK aus. In Unterschleißheim sucht Sozialpädagoge Hazin für Geflüchtete den passenden Arzt, begleitet sie in Kliniken, hilft ihnen, einen Job oder eine Ausbildung zu finden. Vor allem aber hört er zu. Dabei ist Hazin kein ausgebildeter Therapeut. Doch für Flüchtlinge einen Platz bei einem Psychologen zu finden, sei oft schwierig, sagt er. Weil Therapieplätze fehlen - wie auch für Patienten mit einem deutschen Pass. Weil sich wenige Ärzte auf Kriegstraumata spezialisiert haben. Und weil oft unklar ist, wer für die Kosten der Behandlung aufkommen soll. Je nachdem, wie weit das Asylverfahren ist, können das die Sozialämter oder die Krankenkassen sein. Für Walid fand der Sozialpädagoge vor Kurzem einen Platz in einem psychosozialen Zentrum der Caritas in München. Dort kann er etwa einmal im Monat mit einem Therapeuten sprechen - häufiger wäre besser, sagt Hazin, doch es sei ein großer Erfolg, dass er überhaupt einen Platz bekam.

Die Geschichte, die Walid in den nächsten zwei Stunden erzählt, enthält Lücken und Sprünge. Zum Beispiel sagt er, er könne sich nicht mehr daran erinnern, wann er von Afghanistan aufbrach. In Deutschland lebt er der Caritas zufolge gut drei Jahre. Dass Traumatisierte das Gefühl für Zeit und Raum verlieren, sei normal, sagt der Sozialpädagoge. Weil die Bilder sie erdrücken, falle es ihnen schwer, sich zu konzentrieren - zum Beispiel, um eine neue Sprache zu lernen. Walid erhielt nie einen Deutschkurs, er brachte sich alles selbst bei. In Afghanistan sei er nur ein paar Jahre in die Schule gegangen. In Deutschland arbeitet der 22-Jährige als Lagerist bei einer Zeitarbeitsfirma. Einen Teil seines Lohns schickt er nach Hause, seinem kleinen Bruder half er mit dem Geld bei der Flucht. Doch wie lange er seine Familie mitfinanzieren kann, weiß Walid nie: Seine Chefs verlängern seinen Vertrag alle drei Monate. Während er in der Klinik war, taten sie das nicht. Erst als er aus dem Krankenhaus entlassen war, stellten sie ihn wieder ein.

Menschen mit einem psychischen Problem, mit einem Trauma oder einer Depression, brauchen eigentlich Sicherheit, eine feste Tagesstruktur, die ihnen Halt gibt, und eine Perspektive für die Zukunft, sagt Sozialpädagoge Hazin. Doch sein Klient könne sich nicht einmal sicher sein, in welchem Land er in den nächsten Monaten aufwacht und ob er seiner Familie weiter Geld schicken kann. Als der Brief mit dem abgelehnten Asylantrag kam, sei Walid in eine große Krise gestürzt: "Er hatte riesige Angstzustände." Kopfweh, Schwindel, Schlaflosigkeit - vier Tage am Stück sei er einmal wach gewesen. "Ich bin sehr, sehr müde", sagt Walid. "Mein Kopf ist kaputt. Mein Leben ist Scheiße."

In Afghanistan lebe nur noch seine Mutter, sein Vater sei bei einem Anschlag ums Leben gekommen, sein Bruder ebenfalls geflüchtet. "Meine Mama sagt, wenn es in Deutschland nicht klappt, soll ich nach Frankreich. Oder England. Aber ich schaffe das nicht." In Afghanistan habe er jeden Tag Angst gehabt, erzählt Walid. Er habe Nato-Soldaten auf der Straße von Kabul nach Kandahar geschützt, einer Taliban-Hochburg. Im Juli sprengten dort Terroristen mit einer Autobombe ein Polizeihauptquartier in die Luft. Mindestens elf Tote, 80 Verletzte, hieß es danach in den Medien. Die Bilder zeigten meterhohe Flammen, Rauchwolken. Doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte seinen Asylantrag ab. Die Behörde glaubte ihm nicht, dass er in Afghanistan wirklich als Sicherheitsmann arbeitete.

"Meine Mama hat gesagt, ich soll das Land verlassen", sagt Walid. 20 000 Dollar habe er Schleppern bezahlt, die ihn durch den Iran in die Türkei brachten, wo es an der Grenze Schießereien gegeben habe. Und die ihn an der Mittelmeerküste in ein Gummiboot setzten, das beinahe untergegangen sei. Nach Monaten, Walid kann nicht sagen, nach wie vielen, kam er in Deutschland an - dem Land, von dem ihm alle erzählt hatten, dass es gut sei. In München brachte ihn ein Taxifahrer kostenlos in seine Asylunterkunft. Aber dann kamen die Briefe, die er irgendwann nicht mehr öffnete, sondern immer gleich anzündete.

"Stress. Viel Stress." In Afghanistan, in Deutschland, in seinem Kopf. In seinem Zimmer, erzählt Walid, halte er es nicht aus, weil er dort manchmal beobachte, wie die Decke langsam auf ihn zu rausche. Er sagt, dass er nachts oft nicht schlafen könne, dass seine Augen oft rot seien, dass er Albträume habe, dass er stundenlang am Rathausplatz sitze, weil es dort Internet gibt. Und er sagt, dass er seine Mama vermisse.

Jamal Hazin, der Sozialpädagoge der Caritas, kümmerte sich in diesem Jahr um 30 Menschen, die aus ihrer Heimat flohen und er spürt, dass es immer mehr werden, die Hilfe bräuchten. In der Woche hat er zehn Stunden Zeit für sie. Weil er auch noch für Menschen mit einem deutschen Pass zuständig ist und für Flüchtlinge, die nicht im Landkreis München, sondern in Freising leben. Diese zehn Stunden, sagt Hazin, reichen nicht. Er würde die Geflüchteten gerne in ihren Unterkünften besuchen, damit er auch die erreicht, die sich nicht in das Caritas-Büro trauen. Und er würde gerne häufiger mit Ärzten und Flüchtlingen sprechen.

Walid versteht an Deutschland vieles nicht. Er kenne Flüchtlinge, die kiffen, klauen, zu Prostituierten gehen und bleiben dürfen, sagt er. "Ich mache all das nicht und soll trotzdem gehen." Dann schaut Walid auf sein Handy - er muss los zu seinem Job in dem Lager. Kurz bevor er geht, dreht er sich noch einmal um: "Ich hoffe, das war alles nicht zu viel Blabla." Dann fällt die Tür zu.

© SZ vom 13.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: