Kreis und quer:Reine Nervensache

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Im Land der Bundestrainer und Virologen geht es aufregend zu. Tore fallen im letzten Moment und Fans jubeln ohne Maske. Da tut der Schulterschluss gegen eine homophobe Politik in Ungarn gut

Kolumne von Sabine Wejsada

Der Satz der Woche stammt vom Retter der deutschen Nationalmannschaft: "Es ist schön, dass wir mal wieder 82 Millionen Bundestrainer im Land haben statt 82 Millionen Virologen", sagte Leon Goretzka vor dem letzten und alles entscheidenden Gruppenspiel seiner Mannschaft gegen Ungarn. Die 82 Millionen Bundestrainer werden es ihm danken, dass ausgerechnet er am Mittwochabend in der 84. Minute das erlösende 2:2 geschossen und so der deutschen Elf nach einem kaum auszuhaltenden Nervenkrimi in München den Einzug ins Achtelfinale gesichert hat.

Der Großteil der gefühlt 82 Millionen Virologen allerdings dürfte angesichts der Fernsehbilder von den Rängen die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben: Die meisten Fans saßen ohne Masken und Abstand im Kuschelmodus auf der Tribüne, laut singend und massiv Aerosole verströmend, und lagen sich nach dem erlösenden Abpfiff in den Armen - als hätte es nie eine Pandemie gegeben und wenn doch, dann bestimmt außerhalb des Stadions.

Dass sich der Profifußball in einem eigenen Universum abspielt, das weiß man nicht erst seit Beginn der Europameisterschaft, wo in der Münchner Arena rund 14 000 Zuschauer jubeln dürfen. Während im Amateurbereich maximal 500 Zuschauer im Sitzen und seit dieser Woche 100 weitere im Stehen zugelassen sind, Kinder und Jugendliche mehr als ein Jahr lang mehr oder minder ohne Vereinssport und soziale Kontakte auskommen mussten, konnten und können es Thomas Müller und Co. krachen lassen. Wie schon die alten Römer wussten, lässt sich das Volk mit Brot und Spielen beruhigen.

Normalerweise. Es sei denn, die Uefa bringt die Menschen gegen sich auf, wie jetzt geschehen, als den Münchnern verboten wurde, die Arena in Fröttmaning in Regenbogenfarben zu erleuchten, um ein Zeichen für Toleranz und gegen die homophobe Politik von Viktor Orbán zu setzen. Überall im Land erstrahlten an diesem Mittwochabend aus Solidarität Gebäude in buntem Licht, auch im Landkreis München. Mehr noch: Kommunalpolitiker, Vereine und Behörden versahen ihre Profile in sozialen Netzwerken mit farbenfrohem Hintergrund als Unterstützung für die Bewegung der Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender-Menschen (LGBTIQ). Sogar Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und sein Generalsekretär Markus Blume tauchten mit dekorativer Maske im Gesicht im Stadion auf. Ganz nach dem Motto: "Bunt ist in und wir sind es auch."

Bleibt zu hoffen, dass der plakative Schulterschluss nicht nur dem Wahlkampf geschuldet ist und den vermeintlich coronafreien Sommer übersteht, sondern fester Bestandteil in Politik, Sport und Gesellschaft wird. Auch wenn sich die 82 Millionen Bundestrainer nun erst einmal ernsthafte Gedanken über die Aufstellung für das Achtelfinale in Wembley am nächsten Dienstag gegen England machen müssen. Die 82 Millionen Virologen können am 29. Juni ja wegschauen.

© SZ vom 26.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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