Kreis und quer:Die Mär von der staufreien Zeit

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Lange Wege tun weniger weh, wenn sie ehrlich etikettiert sind und man sich von vornherein auf sie einstellen kann. Verstopfte Straßen in den Sommerferien aber gleichen einem Tiefschlag

Kolumne von Iris Hilberth

Es gibt Wege, für die muss man einfach unglaublich viel Zeit einplanen. Da lässt sich auch nichts daran ändern, dass es bis zum Ziel Stunde um Stunde dauert. Immer. Wer sich auf einen solchen Weg macht, erwartet das. Nehmen wir mal eine der längsten Routen, die Bergsteiger in den nördlichen Kalkalpen wählen können. Ein Klassiker in den Loferer Steinbergen, 1600 Meter, 36 Seillängen hinauf auf das Breithorn. Dauer: 13 Stunden und 15 Minuten. Das kann man sich rein zeitlich gesehen einfach nicht schön reden, daher trägt die Tour auch einen unmissverständlichen und ehrlichen Namen: "Ende nie".

Auch in der Ebene braucht man bei manchen Distanzen gar nicht erst zu glauben, es könnte heute mal schneller gehen. 24-Stunden-Läufe sind niemals etwas für Eilige. Keiner würde auf die Idee kommen, sich zu wünschen, heute mal früher nach Hause zu kommen. Schlichtweg falsche Erwartungen wären das. Man kann sich die Enttäuschung also sparen. Bei vielen Alltagsrouten im Landkreis oder den üblichen Wegen in die Stadt ist das bekanntlich nicht anders. Schon mal gemeint, auf dem Föhringer Ring ginge was voran? Oder gehofft, auf der A 995 stünden sie heute mal nicht bis in den McGraw-Graben? Eben. Naiv ist, wer immer noch daran glaubt, dass an bestimmten Tagen mal ein flottes Vorankommen möglich wäre. Außer in den Sommerferien.

Dann nämlich, im August, wenn alle anderen, die immer die Straßen verstopfen, an fernen Stränden liegen, auf hohe Berge steigen oder sich sonst irgendwo auf der Welt vergnügen, wird es endlich freie Straßen geben. Dann kann man später losfahren und kommt trotzdem früher an. So ist die Erwartungshaltung, die sich zum Ende des Schuljahres aufbaut und in die große Hoffnung auf eine staufreie Zeit mündet. Doch schon nach der ersten Ferienwoche ist die Ernüchterung riesig. Die Blechlawine auf der Giesinger Autobahn hat an Länge und Hartnäckigkeit nichts eingebüßt. Von der A 99 und der A 8, auf der nun auch noch die Urlauber unterwegs sind, ganz zu schweigen. Und wer mit dem Auto durch Grünwald muss, wo sie die Oberhachinger Straße gesperrt haben, ist arm dran. Während man nun so dahinschleicht und noch länger im Stau steht als sonst, fragt man sich schon: Was machen die alle noch hier?

Unerfüllte Erwartungen können krank machen. Psychologen warnen vor Depressionen. Es ist also eine gefährliche Zeit, in der man im Sommerferien-Modus vom Verkehrschaos überrascht wird und feststellen muss: Die staufreie Zeit ist eine Mär; eine Erfindung der Autoindustrie; eine Utopie des bayerischen Tourismusverbandes; eine Legende der Tankstellenbesitzer. Es gibt sie gar nicht. Das ist schwer zu verkraften. Doch den S-Bahn-Fahrern geht's nicht besser. Selbst wenn sie vor dem Chaos bei Unterföhring womöglich dem MVV-Slogan geglaubt haben: "Für Sie zählt jede Sekunde? Für uns auch."

© SZ vom 04.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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