Historisches Garching:544 Seiten pralles Leben

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Garching legt zum 1100-jährigen Bestehen eine Chronik vor, die in keinem Haushalt der Stadt fehlen sollte. Mehr als 30 Autoren nähern sich auf unterschiedliche Weise der Geschichte und den Geschichten in der Kommune. Entstanden ist ein Buch - komisch, traurig und immer lesenswert

Von Gudrun Passarge, Garching

"Der Pfarrer hat sein' Herrn gelobt, und drüber hat die Glock'n tobt", heißt es im Glockensong von Fredl Fesl. Das Lied kennen viele, aber wer weiß schon, dass er es in Hochbrück geschrieben hat, als er Anfang der Siebzigerjahre dort an der Jahnstraße wohnte und ihn die neue Glocke im Gotteshaus vis-à-vis schon "um sieb'n Uhr morgens in der Nacht" aus dem Schlaf riss. Nachzulesen ist das und vieles mehr in "Unser Garching, Stadtchronik - 1100 Jahre lebendige Geschichte". Wobei der Titel Programm ist und nicht zu viel verspricht. Helmuth Kammerer und Oliver Hochkeppel als Herausgebern und mehr als 30 Autoren ist ein außergewöhnlich spannendes Werk gelungen, das voller Überraschungen steckt und kaum eine Frage unbeantwortet lässt.

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(Foto: FRM)

1100 Jahre Garchinger Geschichte, dazu gehören auf jeden Fall das Atomei und Professor Heinz Maier-Leibnitz...

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(Foto: Florian Peljak)

...sowie Fredl Fesl (hier mit Herbert Becke bei der Feier zur Chronik im Bürgerhaus), der das Taxi in seinem Lied an Hochbrück vorbeilenkte.

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(Foto: Florian Peljak)

"Unser Garching" nennt sich die Stadtchronik, die hier bei der Vorstellung ausliegt.

Beim Festakt zur Vorstellung der Chronik bezeichnete Bürgermeister Dietmar Gruchmann (SPD) das Werk als sein neues Lieblingsbuch, in dem Ursprung, Entwicklung und Geist Garchings zu entdecken seien. Die Chronik wiegt 2,8 Kilogramm und hat 544 Seiten. Das allein ist schon bemerkenswert, doch noch erstaunlicher ist das Konzept. Da haben sich mehr als 30 Autoren bemüht, Garchinger Geschichte unter den verschiedensten Blickwinkeln zu beleuchten. Viele alte Bekannte tauchen dort auf, etwa Ortschronist Michael Müller, Herbert Becke, der frühere Leiter der VHS Nord, Jürgen Heckel, der frühere Leiter der Bücherei, oder Günter Mayr, der Vorgänger des jetzigen Kulturreferenten Wolfgang Windisch. Ein Buch von Garchingern für Garchinger, wie Gruchmann betonte, wobei die Idee zur Chronik von seiner Vorgängerin Hannelore Gabor stammte.

Das Atomei während der Bauphase. (Foto: Stadtarchiv)

Wer das Werk in die Hand nimmt, kommt leicht ins Schmökern. Das liegt nicht nur an den gut ausgewählten Fotos aus unterschiedlichsten Zeiten, sondern auch an den sehr persönlichen Texten. Da beschreibt etwa Albert Probst (1931-2015), der frühere CSU-Bundestagsabgeordnete und Staatssekretär, in seinen "Erinnerungen zur politischen Geschichte Garchings" das Dorfleben vom Ersten Weltkrieg bis in die Siebzigerjahre. Vor dem Krieg stellt er fest: "Die Ortspolitik wurde ausgschnapselt." Großbauern trafen sich bei den zwei Krämern im Ort (Hagn und Bader-Anderl) und machten die Beschlüsse unter sich aus, bevor die Themen in den Gemeinderat kamen. Interessant sind auch seine Schilderungen aus der NS-Zeit. So berichtet er vom Lehrer Karl Raabe, der "ein begeisterter Anhänger der Theorie vom überlegenen nordischen Blut" gewesen sei. "Meist erzählte er eine verbrecherische Geschichte aus der Weltpolitik und stellte dann die Frage, welche er selbst auch gleich beantwortete: ,Wer ist schuld daran - der Jude.'" Später habe dann der schwächste Schüler der Klasse diese Frage beantworten müssen, der froh gewesen sei, "weil er auch einmal etwas wusste, das den Lehrer zufriedenstellte". Probst schildert die Personen in all ihrer Ambivalenz. So habe genau dieser Lehrer Probleme mit Prozentrechnen und Rechtschreiben gehabt, "die Kinder mussten ihn oft korrigieren". So lebendig schildert er, was damals passierte, dass der Leser es direkt vor sich sieht.

Auch die NS-Diktatur mit dem weißen Maibaum ist leider Teil der Garchinger Geschichte. (Foto: Stadtarchiv)

Das Buch ist eine wahre Fundgrube. Geschichte, Parteien in Garching, Ortsentwicklung, Gewerbe, Kultur, Kirchen, Verwaltung, Natur - kaum ein Thema, das nicht gewürdigt wird. Mit großem Elan haben sich die Autoren in die Materie eingearbeitet. Heinz-Gerd Hegering hatte es übernommen, stellvertretend für die Autoren deren Freuden und Nöte beim Schreiben zu schildern. Das habe schon bei den Inhalten begonnen, sagte der frühere Leiter des Leibniz-Rechenzentrums. Was gehört rein in die Chronik? Etwa, dass in Garching um 1960 eine Anlage "Klein-Deutschland" ähnlich wie Madurodam in Holland entstehen sollte? Doch nach zwei Jahren Planung wurde es verworfen, weil zwei Millionen Besucher im Jahr die Zufahrtstraßen überfordert hätten. Hegering hatte noch mehr Beispiele parat. Nicht alle sind in der Chronik zu finden, aber Anekdoten und Erstaunliches bietet sie trotzdem in Hülle und Fülle.

Helmuth Kammerer, der nach eigenen Angaben einige schlaflose Nächte hatte, bis das Werk nach vier Jahren in Druck gehen konnte, lobte das Autorenteam ausdrücklich. Er habe anregende Gespräche geführt, und "neue, ja freundschaftliche Kontakte" in dieser Zeit geknüpft. Und natürlich viel Neues über Garching erfahren. Kammerer schmunzelt, wenn er die Geschichte des früheren Bauamtsleiters und Autors Adolf Fritz erzählt, der ein Grundstücksgeschäft beschreibt. Dazu holte Fritz 20 000 Mark von der Bank, packte Bürgermeister Josef Amon und den Notar in seinen schmucken DKW Junior mit 40 PS und fuhr die paar Meter zur Bäuerin, der man ein Grundstück für den Gemeindefriedhof abkaufen wollte. "Der Notar beurkundete den Verkauf, die Kaufsumme wurde bar übergeben und quittiert. Und schon hatte das Grundstück den Eigentümer gewechselt." Solche Reminiszenzen finden sich viele. Mit-Herausgeber Oliver Hochkeppel, Journalist und Historiker, sagt, dass es der Historikerin Verena Spicker gut gelungen sei, die Geschichte zwischen 1933 und 1945 aufzuarbeiten. Er habe bei der Lektüre viel gelernt, "wie das selbst jeder Garchinger tun wird, der das Buch zur Hand nimmt". Er glaubt, dass es so schnell keine andere Chronik geben wird, in der so viel drinsteht. Etwa über die Landwirtschaft im Dorf Garching. "Eine untergegangene Welt." In der Chronik lebt sie fort.

"Unser Garching" kostet 39,90 Euro und ist im Rathaus, in der Bücherei und bei Sirius erhältlich.

© SZ vom 12.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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