Gefährliche Entwicklung:Wohnungsnot erreicht die Mitte der Gesellschaft

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Jeder zweite, der die Fachstelle zur Verhinderung von Obdachlosigkeit aufsucht, hat Einkünfte aus Arbeit oder Rente

Von Martin Mühlfenzl, Landkreis

Die Zahl der Menschen im Landkreis, die von Obdachlosigkeit bedroht sind, steigt weiter an. Alarmierend ist vor allem, dass die Hälfte der Personen, denen der Wohnungsverlust droht, durchaus eigene Einkünfte hat, weil sie arbeitet, eine Rente bezieht oder selbständig ist. "Die Not ist im Alltag der Mittelschicht angekommen", sagt Max Wagmann, der Vorsitzende des Präsidiums der Arbeiterwohlfahrt (Awo) München-Land, die - vom Landkreis beauftragt - die Wohnungsnothilfe für die 29 Städte und Gemeinden verantwortet. Anlässlich der Veröffentlichung des Jahresberichts der Wohnungsnotfallhilfe für 2017 sagt Wagmann, der "Erfolg der Wohnungsnotfallhilfe" sei "bei genauer Betrachtung eher deprimierend".

Die Arbeit der Wohnungsnotfallhilfe leistet die im Jahr 2007 ins Leben gerufene Fachstelle zur Verhinderung von Obdachlosigkeit (FOL). In ihrer präventiven Funktion kümmert sich die Fachstelle um Menschen, die vor dem Verlust des Wohnraums stehen. Die Mitarbeiter beraten und erarbeiten mit den Betroffenen Lösungen, wie die Miete gesichert werden kann. Dieses Angebot, das der Landkreis finanziert, haben in den vergangenen zehn Jahren im wohlhabenden Landkreis München mehr als 20 000 Menschen in Anspruch genommen. Im vergangenen Jahr waren es laut Awo 2610 Einwohner, die sich helfen lassen mussten - darunter 650 Kinder.

Extrem wichtig ist laut Barbara Ettl von der Arbeiterwohlfahrt eine enge Zusammenarbeit der Fachstelle mit den Kommunen, dem Jobcenter und dem Sozialamt. Denn in den allermeisten Fällen sei schnelle Hilfe geboten: Trudelt etwa bei einem Mieter der Termin für eine Zwangsräumung ein, müssten die Helfer sofort in Kontakt mit dem Vermieter treten - auch wenn die Verhandlungsposition der Fachstelle laut Ettl zu diesem Zeitpunkt aufgrund der bereits entstandenen Kosten schwierig ist. Dennoch könne die Obdachlosigkeit auch in diesem Stadium noch verhindert werden. In der Regel gelingt es den Mitarbeitern der Fachstelle, die Betroffenen vor der Obdachlosigkeit zu bewahren: In mehr als 1300 der 1670 Fällen konnte die Wohnung erhalten oder eine andere Bleibe gefunden werden.

Deutlich angestiegen ist 2017 die Zahl von EU-Bürgern, die dank der Freizügigkeit bei der Wahl des Arbeitsplatzes in den Landkreis München kommen und bei der Fachstelle Hilfe suchen. Im vergangenen Jahr lag ihr Anteil bei 23 Prozent. Allerdings erschweren sprachliche Barrieren oft die Beratung und die Kontaktaufnahme der Betroffenen mit potenziellen Vermietern. Daher bietet die Arbeiterwohlfahrt regelmäßig Workshops an, die Menschen mit Migrationshintergrund auf die Wohnungssuche vorbereiten sollen.

Die meisten Bürger aus EU-Staaten, die in den Landkreis kommen, haben zwar eine Arbeit, wohnen aber häufig in prekären Wohn- und Mietverhältnissen. Oft zu horrenden Preisen. Diese Menschen, warnt die Awo, seien oft der Gefahr ausgesetzt, auf Kreditbetrüger hereinzufallen, die ihnen scheinbar günstigen Wohnraum anbieten. Angezogen von den Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt im Landkreis und doch in der Folge bedroht durch den vollkommen überhitzten Wohnungsmarkt, würden diese Menschen zudem vermehrt Opfer von Überforderung und Aggression. "Für diese Menschen gibt es weder Helferkreise noch Dolmetscher in ihrer Sprache", sagt Awo-Sprecherin Ettl.

Mit dieser Entwicklung verknüpft die Awo auch eine Forderung an die Kreispolitik: Die steigende Zahl Hilfesuchender - gerade auch aus dem Ausland - mache ein eigenes Konzept für "gezielte Unterstützung" der Betroffenen erforderlich.

Bisher nimmt der Kreis für die Wohnungsnotfallhilfe mehr als eine halbe Million Euro jährlich in die Hand. Sollte das Angebot erweitert werden, müssten die Kreispolitiker diesen Betrag aufstocken. Im vergangenen Jahr lehnte der Kreistag allerdings ein weitergehendes finanzielles Engagement im Rahmen der Bekämpfung von Obdachlosigkeit ab. Die Grünen hatten die Erarbeitung eines zusätzlichen Konzeptes gefordert - das Gremium aber verweigerte die Zustimmung auch mit dem Hinweis, die Versorgung von Obdachlosen falle in die Zuständigkeit der Kommunen.

Allerdings bietet seit 2009 auch die Arbeiterwohlfahrt im Landkreis eine eigene Obdachlosenberatung an: In Gräfelfing, Höhenkirchen-Siegertsbrunn, Neuried, Planegg, Pullach und seit diesem Jahr in Ismaning. Insgesamt 77 Menschen nahmen die Hilfe der Beratungsstellen im vergangenen Jahr an. Die Awo stellt sich auf wachsende Spannungen auf dem Wohnungsmarkt ein. Sie hat dafür klare Anzeichen ausgemacht. Die Schwächsten im Kampf um eine bezahlbare Wohnung würden aufeinander losgelassen, warnt Vorstand Wagmann: "Asylbewerber, EU-Bürger und Deutsche drängen auf den Wohnungsmarkt. Es ist ein deutlicher Anstieg von fremdenfeindlichen Äußerungen und Tendenzen spürbar."

© SZ vom 11.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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