Kriminaldauerdienst:Es geschah in der Nacht

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Ob ungeklärte Todesursachen, schwere Raubüberfälle oder vermisste Personen: Oft hetzen die Ermittler des Kriminaldauerdienstes von einem Fall zum nächsten. Schreckliche Szenen sind sie gewohnt. Denn ihre Arbeit beginnt, wenn die Kollegen Feierabend haben.

Florian Fuchs

In der Wohnung riecht es dumpf und süßlich. Die Leiche befindet sich im Schlafzimmer. Wolfgang Schlegel blickt ruhig auf die tote Frau herab, sie liegt zwischen Bett und Tür, wohl schon seit ein paar Tagen. Ihr Kopf ist leicht nach hinten gedreht, das Gesicht etwas bläulich. "Bereits in Fäulnis übergehend", diktiert Schlegel in sein Aufnahmegerät. Der Staatsanwalt wird seine Einschätzung noch brauchen, er muss später entscheiden, ob die Ermittlungen fortgeführt werden. Ob es eine Obduktion gibt. Und ob die Mordkommission eingeschaltet wird.

Wolfgang Schlegel vom Kriminaldauerdienstes bereitet den Leichenkoffer für den Einsatz vor. (Foto: N/A)

Es ist 22.45 Uhr, als Schlegel und seine Partnerin Ines Spachtholz in der Altbauwohnung im Münchner Westen ankommen. Für sie ist es der zweite Fall in dieser Nacht, ein paar Stunden zuvor haben sie schon einen Einbruch aufgenommen. Das Duo ist da flexibel, Schlegel und Spachtholz sind nicht spezialisiert auf bestimmte Gewaltverbrechen. Sie bearbeiten alles, was nachts an schweren Delikten anfällt in München: Sexualstraftaten, Raubüberfälle, Todesermittlungen. Wolfgang Schlegel und Ines Spachtholz arbeiten bei dem mit 98 Mitarbeitern größten Fachkommissariat Bayerns, dem Kriminaldauerdienst - sie sind meist dann im Einsatz, wenn ihre Kollegen von der Kriminalpolizei Feierabend haben.

Es ist ja nicht so, dass die Verbrechen in dieser Stadt alle am helllichten Tag stattfinden, im Gegenteil. Nicht jedes Fachkommissariat aber hat einen Bereitschaftsdienst, die meisten Beamten gehen um 16.30 Uhr nach Hause, am Wochenende haben sie ohnehin frei. Und so kommt es, dass der Münchner Kriminaldauerdienst, den sie hier alle nur KDD nennen, einiges zu tun hat: 960 Leichen mussten Mitarbeiter des Kommissariats im vergangenen Jahr untersuchen, dazu 235 Sexualstraftaten.

Der KDD hat 2010 insgesamt 3000 schwere Diebstähle und 273 Raubüberfälle aufgenommen, 1300 Vermisstenfälle bearbeitet und bei 153 gefährlichen Körperverletzungen ermittelt. "Wir haben so viel zu tun", sagt Peter Reichl, der das Kommissariat seit kurzem leitet, "dass wir kaum mehr hinterherkommen."

Wolfgang Schlegel und Ines Spachtholz kennen die Hektik gut, sie sind schon ein paar Jahre beim KDD. Ihre Nachtschicht dauert von 17 Uhr bis fünf Uhr früh, meist hetzen sie von einem Verbrechen zum nächsten. Auch an diesem Abend geht es schnell los, ein bisschen zu schnell. Gerade wollen sich die beiden im Aufenthaltsraum des KDD an der Löwengrube noch ein Stück Pizza in den Mund schieben, für die lange Nacht, da kommt der Ruf aus der Einsatzzentrale: Einbruch in Haidhausen, ein kleiner Tresor ist gestohlen, keine sichtbaren Beschädigungen an Tür oder sonstigen Eingängen. "Klingt seltsam", sagt Spachtholz.

Einbrüche und gefährliche Körperverletzungen, das sind die beiden Delikte, die sie auch tagsüber beim KDD bearbeiten. Der Einsatz in Haidhausen also ist Routine. Unten am Hauseingang überprüft Schlegel die Tür: keine Spuren. Auch oben im fünften Stock, an der Wohnungstür, ist nur ein kleiner schwarzer Strich zu erkennen. "Ich weiß nicht, wie die reingekommen sind", sagt der Wohnungsbesitzer.

Er ist ein wenig untersetzt, etwa 40 Jahre alt, hat dunkle Haare, spricht schnell und ist ziemlich aufgeregt. Ringe lagen in dem Tresor, Papiere - und knapp 2000 Euro. "Aber meinen Schmuck auf dem Wohnzimmertisch haben die Deppen nicht mitgenommen", schimpft er und verdächtigt frühere Pflegerinnen seiner inzwischen verstorbenen Mutter, die mal einen Schlüssel zu der Wohnung hatten.

Spachtholz ist weniger überzeugt, der Verdacht erscheint ihr doch recht vage. Aber sie hört sich alles an und nimmt die Aussage auf. Schlegel befragt in der Zwischenzeit die Nachbarn. Keiner hat was gesehen, keiner hat was gehört. Ein Kollege von der Spurensicherung kommt, prüft die Tür auf Fingerabdrücke - nichts. Dann die letzte Frage von Schlegel: "Hatten Sie in letzter Zeit finanzielle Probleme?" Die Ermittler müssen ausschließen, dass hier die Versicherung betrogen werden soll. Geldnot herrscht anscheinend nicht, die Aussage des Wohnungsbesitzers klingt glaubhaft.

Eine Schicht beim KDD besteht immer aus 20 Leuten: Es gibt vier Teams, die rausgeschickt werden, zwei Mitarbeiter sitzen in der Einsatzzentrale vor großen Bildschirmen, es gibt einen Einsatzleiter und drei Angestellte, die für die Teams am Computer recherchieren - zum Beispiel an dem Rechner, der Bilder von den Überwachungskameras der U-Bahnhöfe liefert. Früher hatten sie einen Mitarbeiter mehr pro Schicht, dann wurden 2009 ein paar Stellen gestrichen.

Seitdem haben sie richtig zu kämpfen hier. Wenn zu viel los ist, können sie manche Einsätze gar nicht bewältigen, dann müssen Streifenbeamte aus den Polizeiinspektionen ausrücken - und die sind eigentlich gar nicht dafür ausgebildet. "Das ist nicht ganz so optimal", sagt Kommissariatsleiter Reichl, "auch weil die Schutzpolizisten dann wieder auf der Straße fehlen."

Auch in dieser Nacht bleibt es hektisch, der Hunger muss noch ein bisschen warten. Schon auf der Rückfahrt kommt die Meldung von der Leiche im Münchner Westen. "Polizeileiche" nennen die Ermittler das, wenn noch nicht ganz klar ist, ob ein natürlicher oder gewaltsamer Tod vorliegt. Schlegel interessiert sich für solche Einsätze, früher war er bei den Todesermittlern und hat dort viele solcher Fälle betreut.

Spachtholz war früher in Regensburg für Körperverletzungen zuständig. Auch sie hat schon viel gesehen in ihrem Job, einmal musste sie in einem Fall ermitteln, in dem der Täter seinem Opfer mit den Fingern beide Augen aus den Höhlen drückte und dann aus dem zweiten Stock über den Balkon flüchtete - ein Auge fanden sie auf dem Balkon des Nachbarn, das zweite im Garten. Leichen hat die 34-Jährige auch schon viele untersucht. "Aber ich muss das nicht unbedingt haben", sagt sie.

Bei Schlegel ist das anders. Dabei ist es nicht die Untersuchung der Toten, die den 41-Jährigen fasziniert. Das nimmt er professionell, Ekel hat er sich abgewöhnt. Es sind die Umstände vieler Fälle. "Dieser Hass, den Menschen entwickeln können", sagt er, "das finde ich unglaublich." Er hatte einen Fall, da hat sich ein Mann direkt vor dem Schlafzimmerfenster seiner frisch geschiedenen Frau erhängt, an einem Gerüst. "Es war das Erste, was sie morgens nach dem Aufwachen gesehen hat. Er wollte ihr einfach nochmal eine mitgeben." Ein andermal ist ein Mann im Streit mit seiner Frau zum Waffenschrank gegangen und hat sich in den Kopf geschossen. Einfach so, im Affekt. "Die Frau war fertig mit der Welt, die denkt bestimmt heute noch jeden Tag daran", sagt Schlegel.

Bei der alten Frau in der Altbauwohnung deutet nichts auf einen unnatürlichen Tod hin. Den Nachbarn war aufgefallen, dass in der Küche bereits seit Tagen Licht brennt, der Sohn konnte seine Mutter nicht mehr telefonisch erreichen, auch sein Klopfen an der Tür blieb unbeantwortet. Also haben Polizei und Feuerwehr die Wohnung aufgebrochen - und die Leiche gefunden. Vor ein paar Jahren hatte die 74-Jährige Lungenkrebs, sie lebte schon lange allein und ist nur noch selten vor die Tür gegangen. Der Leichenschauarzt, der in solchen Fällen gerufen wird, hatte dennoch eine Untersuchung des KDD angeordnet, weil er keine eindeutige Todesursache feststellen konnte. Aber Schlegel gibt Entwarnung. "Sie war alt, sie hatte eine schwere Krankheit, ich kann hier nichts Verdächtiges erkennen", sagt er.

Es gibt trotzdem angenehmere Einsätze. Die Leiche liegt schon ein paar Tage hier und in der Wohnung ist überall Katzenkot, das Haustier der Rentnerin war mit der toten Frau eingeschlossen. Spachtholz und Schlegel haben kein Problem mit so etwas, sie scheinen mit den Toten und auch mit den menschlichen Abgründen, mit denen sie wöchentlich bei ihren Einsätzen konfrontiert werden, gut umgehen zu können. "Sonst hätten wir auch den falschen Job", sagt Spachtholz. Die teils schrecklichen Bilder von den Tatorten nehmen sie nur selten mit nach Hause. "Ich habe eine halbe Stunde S-Bahnfahrt", sagt Schlegel, "dann ist alles verarbeitet." Seiner Frau braucht er ohnehin nicht kommen mit Details. "Die will das alles gar nicht wissen."

© SZ vom 30.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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