Kommentar:Wegschauen geht nicht mehr

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Der Kompromissvorschlag von CSU und SPD ist kein Skandal. Er vergibt aber Chancen und schafft neue Probleme

Von Martin Bernstein

In München wird es auch künftig auf öffentlichem Grund keine Stolpersteine im Gedenken an die Nazi-Opfer geben. Die Befürworter der Stolpersteine hatten dennoch Erfolg. Wenn Angehörige von Opfern es wollen, wird mit einer Gedenktafel oder einer Stele an die Ermordeten erinnert werden. "Gedenken auf Blickhöhe" nennt das die SPD.

Dieser Kompromissvorschlag von CSU und SPD ist kein Skandal. Er vergibt aber Chancen und schafft neue Probleme. Zum einen die vergebenen Chancen: Das Kulturreferat hatte vorgeschlagen, eine Koordinierungsstelle und einen Fachbeirat einzurichten. Davon ist nun in dem Antrag von CSU und SPD nicht mehr die Rede. Eine wichtige Erfahrung aus anderen Städten, wo Stolpersteine verlegt werden dürfen, bleibt damit unberücksichtigt. Die lautet nämlich, dass der von Fachleuten begleitete, immer wieder neue Diskurs über die Schicksale von NS-Opfern genauso wichtig ist wie die Plakette mit den Namen. Zum anderen die neuen Probleme: Sie könnten entstehen, weil die Stadträte die Verantwortung erst einmal auf Angehörige und Hausbesitzer abwälzen. Kein Wort darüber im Antrag, wer die Angehörigen in ihrem Wunsch unterstützt. Kein Wort darüber, wer Überzeugungsarbeit bei Hausbesitzern leisten soll. Kein Wort darüber, wer die juristische und wissenschaftliche Begleitung bieten soll.

Dennoch: Auch dieser Weg kann leisten, was in vielen anderen Städten die Stolpersteine schon lange schaffen - das Gedenken an Menschen, die einst in dieser Stadt gelebt haben, in den Alltag zurückzubringen. Dafür aber muss dieser Weg vernünftig ausgestaltet und dann konsequent beschritten werden. Wer sich wie die Stadtratsmehrheit auf die Stolpersteine-Gegnerin Charlotte Knobloch beruft, muss sich auch den Teil ihres Anliegens zu eigen machen, der sich mit dem Wunsch der Befürworter deckt: Niemand darf vergessen werden und niemand darf mehr wegschauen können.

© SZ vom 28.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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