Kommentar:Es braucht mehr als Denker

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Eine echte lebendige Stadtgesellschaft braucht eine gute Mischung: sie braucht Strategen und Denker, aber genau so Bäcker, Schuhverkäufer und Bauarbeiter. Deshalb muss München aufpassen, dass sich nicht nur noch Gutverdiener die Stadt leisten können

Von Katja Riedel

Es gibt Landstriche in Deutschland, die geprägt sind vom Abschied, oder von der Erwartung darauf. Wer dort auf ein Gymnasium wechselt, weiß schon, dass er gehen wird. Die Familie verlassen, die Freunde, die vertrauten Dörfer oder Kleinstädte. Denn gute Universitäten und Arbeit für Ingenieure, für Spitzenmediziner oder hochbegabte Juristen, die gibt es in diesen Gegenden nicht mehr. Die Arbeit für gut ausgebildete Menschen konzentriert sich immer stärker auf wenige Großräume Deutschlands. Sie sind spitze in allem: sei es die Dichte von Kliniken, von Dax-Konzernen oder von Forschungszentren, aus denen neue Ideen, neue Unternehmen entstehen. Und in keinem anderen deutschen Großraum gibt es wegen all dieser Spitzenfaktoren so viel Arbeit für Hochqualifizierte wie in München.

Für München ist das Fluch und Segen zugleich. Hier fließen die Gewerbesteuern, hier siedeln sich große Konzerne an, auch Aufsteiger aus dem Ausland wie etwa der chinesische Handyhersteller Huawei, der hier den Hauptsitz seines Forschungszentrums eröffnet hat. Gemeinsam ist all jenen großen Konzernen eines: Sie alle wollen Strategen, Denker, Rechner. Sie alle bauen keine neuen Fabrikhallen, keine Förderbänder, an denen die Produkte zusammengeschraubt werden. Und die Alteingesessenen verlagern zunehmend einfachere Arbeitsschritte an Standorte, an denen Arbeit billiger ist. Mit dem Ergebnis, dass vom Münchner Jobwunder, das seit einigen Jahren anhält, fast 50 000 Menschen nicht profitieren können, dauerhaft.

Für eine reiche Stadt wie München, zumal für ihre politischen Entscheider, ist das vor allem ein soziales, weniger ein ökonomisches Problem. Die Frage ist, ob München eine Stadt sein will, in der nur Platz ist für Menschen mit Denkerstirn. Wirtschaftsreferent Schmid hofft, dass mit mehr Bildung weniger Münchner auf der Strecke bleiben. Wichtig wäre aber auch, Schulabschlüsse und Bildungswege jenseits von Abitur und Hochschule aufzuwerten. Wer kein Talent zum Gehirnchirurgen hat, kann sehr wohl ein hervorragender Dachdecker sein. Er muss aber sein spezielles Talent entdecken können. Und München braucht nicht nur Juristen und Unternehmensberater, sondern Bäcker, Schuhverkäufer, Müllmänner und Bauarbeiter. Sie gehören zu einer lebendigen, einer echten Stadtgesellschaft.

© SZ vom 03.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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