Kindesmissbrauch:"Situationen, die uns bis ins Mark erschüttern"

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Ein Krankenpfleger hat einen Jungen missbraucht. Michael Nitsch vom Kinderschutzzentrum über die Bewältigung solch einer Tat.

A. Goebel

Im Falle eines sexuellen Missbrauchs von Kindern bieten verschiedene Einrichtungen Hilfe sowohl für das Opfer als auch für die Eltern an. Eine davon ist das Kinderschutzzentrum München. Ein Gespräch mit dem Leiter Michael Nitsch.

Hilflos ausgeliefert: Die traumatischen Folgen eines sexuellen Übergriffs stellen sich manchmal erst Wochen nach der Tat heraus. (Foto: Foto: ddp)

SZ: Nachts steigt ein Fremder in die Wohnung ein, es kommt zu einem sexuellen Übergriff am schlafenden Kind - eine Horrorvorstellung. Wie kann eine Familie mit so einem Erlebnis fertig werden?

Michael Nitsch: Zunächst muss man sagen, dass hier offenbar ein untypischer Fall vorliegt. Ein Großteil der sexuellen Missbrauchsfälle passiert in der Familie oder im nahen Umfeld. Das ist für das Opfer besonders traumatisierend: Jemand, der dem Kind emotional nahesteht, tut ihm etwas an. Bei diesen Kindern entsteht durch die langfristige Manipulation des Missbrauchers oft das belastende Gefühl, mit schuld zu sein an den Vorkommnissen. Nach dem, was wir bisher wissen, ist das in diesem Fall zum Glück anders. Solche Situationen können Kinder sogar ohne signifikante Traumazeichen bewältigen.

SZ: Woran merken die Eltern, ob ihr Kind traumatisiert ist?

Nitsch: Man kann hier ganz sicher von einem Schock ausgehen, den der Junge erlitten hat. Er musste die Erfahrung machen, dass ihn in der eigenen Wohnung, in der man sich gerade nachts sicher und geschützt fühlt, plötzlich ein Eindringling bedrängt. Das ist ein wahnsinniger Schrecken. Das Gefühl des Behütetseins ist empfindlich gestört. Dass so ein Kind in der ersten Zeit nach dem Vorfall Angst hat, vielleicht nicht alleine schlafen will, ist ganz normal. Aber wenn noch Wochen danach ohne ersichtlichen Anlass die Panik aktiviert wird, als würde ein Programm ablaufen, wenn sich der Schrecken nicht auflöst, Depressionen oder Alpträume auftreten, kann eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung vorliegen.

SZ: Was können die Eltern in der ersten Zeit nach so einem Erlebnis tun?

Nitsch: Es ist ganz wichtig, dem Kind emotionale Unterstützung zu bieten. Das Kind muss das Gefühl haben: Meine Eltern sind mit mir, sie hören mir zu, und sie hören mir auch fünf Mal zu, wenn ich darüber sprechen will. Wenn ein Kind, und im aktuellen Fall vielleicht gerade ein Junge in diesem Alter, von sich aus Schwierigkeiten hat, über seine Empfindungen zu reden, muss man den Ausdruck von Gefühlen fördern. Indem die Eltern selbst sagen: "Mensch, das war sicher ein riesiger Schrecken für dich." Und sie sollten immer betonen, was das Kind richtig gemacht hat. In diesem Fall: "Gut, dass du gleich um Hilfe gerufen hast." Das Schlimmste bei sexuellen Übergriffen, das zeigen viele Studien, ist das Gefühl von Kontrollverlust: Wo ich nicht kämpfen und nicht fliehen kann, friere ich innerlich ein. Dieser Junge hat nach dem Papa geschrien, es ist gleich jemand gekommen, der ihn schützt - er muss nicht innerlich einfrieren.

SZ: Für Eltern ist die Situation belastend, zusätzlich müssen sie für ihr Kind da sein - wie lässt sich das bewältigen?

Nitsch: Wir sagen den Eltern in Beratungen immer, dass es wichtig ist, den eigenen Schrecken von dem des Kindes zu trennen. Ich kann kein Kind ermutigen oder stärken, wenn ich mich selbst ohnmächtig und überfordert fühle. Hier wäre es falsch, das alles alleine bewältigen zu wollen. Es gibt einfach Lebenssituationen, die uns bis ins Mark erschüttern. Und da dürfen wir uns Unterstützung von außen holen, zum Beispiel in einer Beratungsstelle, um uns zu sortieren.

© SZ vom 04.08.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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