Keine Lust auf Ruhestand:Mehr Freund als Doktor

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Bevor Peter Cohn Arzt wurde, arbeitete er als Fotograf. Aber eines Tages stellte er sich die Frage, ob ihn diese Tätigkeit wirklich noch Jahre glücklich machen könnte. Dann zog er daraus Konsequenzen. (Foto: Florian Peljak)

Mit Ende 20 holte Peter Cohn an der Abendschule das Abitur nach. Mit Mitte 30 studierte er Medizin. Und heute, mit 75, öffnet er immer noch Montag bis Freitag seine Praxis. Warum tut er das?

Von Christina Hertel

Es ist fast 70 Jahre her, dass Peter Cohn die Angst vor dem Tod verlor. Mit sieben, so erzählt er, spazierte er durch die Straßen von Tel Aviv, sah ein Kupferkabel über einer Stromleitung hängen, dachte, er könne es zu Geld machen, kletterte hinauf. Die Erinnerung an diesen Moment muss stark sein, so lebendig erzählt er davon. Von dem Moment, in dem plötzlich alles schwarz war. Als er auf dem Boden lag, die Hände verbrannt, die Arme verbrannt, die Beine verbrannt. Und sein Geist, sagt er, stand in einem dunklen Tunnel, an dessen Ende ein helles Licht schien. Er erinnert sich noch heute daran, dass ihn Wärme umgab, dass er höchstes Glück fühlte, kurz darauf bitterste Enttäuschung. "Es ist noch nicht deine Zeit", habe eine Stimme gesagt. Dann hörte er, wie sein Vater ihn anschrie: "Du musst atmen!" Und Cohn atmete. Es habe ein halbes Jahr gedauert, bis er wieder in die Schule gehen konnte. Sogar das Sprechen habe er neu lernen müssen.

Vielleicht geht man mit weniger Angst durchs Leben, wenn man weiß, dass am Ende ein Licht wartet. Und vielleicht trifft man radikaler Entscheidungen, wenn man so früh erfährt, wie schnell alles vorbei sein kann. Peter Cohn, 75, ein Mann mit blauen Augen, weißem Haar, Märchenonkelstimme, sagt, er glaube daran, dass ein Mensch sein Leben immer verändern kann, egal, wie alt er ist - wenn er wirklich will.

Cohn wuchs in Tel Aviv auf, seine Familie emigrierte in den Fünfzigerjahren nach Deutschland. Mit 14 machte er eine Lehre zum Fotografen. Mit Ende 20 holte er das Abitur an der Abendschule nach. Mit Mitte 30 studierte er Medizin - als Vater von fünf Kindern. Und heute mit 75 öffnet er immer noch Montag bis Freitag seine Praxis, arbeitet zehn, elf Stunden jeden Tag.

"Ein Patient meinte einmal: Ich bin ein Fossil - aber ein liebenswertes", sagt Peter Cohn. Er sitzt in seiner Praxis in Schwabing. Die Wände sehen nach Wohnzimmer aus: hölzerne Pendeluhr, gerahmte Gemälde, darauf dunkle Gassen, Winterlandschaft, Gänse in einem Teich. Es ist 12 Uhr, aber die Kaffeetasse von diesem Morgen steht immer noch halb voll auf seinem Schreibtisch. Er sei ein Typ Hausarzt der alten Schule - möglichst wenig Spritzen, möglichst viel Zeit für ein Gespräch. "Wenn Sie zu mir mit einer Harnwegsinfektion kommen, kann es sein, dass Sie nach fünf Minuten hier raus sind", sagt Cohn. "Wenn Ihr Freund mit Ihnen Schluss gemacht hat, kann es sein, dass wir nach einer halben Stunde immer noch hier sitzen." Für die nächsten Jahre habe er nur einen Wunsch: Möglichst lange fit bleiben, möglichst lange weiterarbeiten. "Wenn ich aufhören würde, hätte ich fast ein schlechtes Gewissen."

Dabei gibt es in München, anders als in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern, mehr als genug Hausärzte: Insgesamt sind es 1 526 - 156 mehr als nach dem Schlüssel der bayerischen Kassenärztlichen Vereinigung notwendig wären. Allerdings ballen sie sich dort, wo auch Cohns Praxis liegt: mehr oder weniger im Zentrum. Außerdem ist er nicht der einzige Arzt Münchens, der bereits den Ruhestand genießen könnte: Etwa ein Drittel der Hausärzte ist laut dem Gesundheitsreferat älter als 60 Jahre. Dass der Job bei jüngeren Leuten so unbeliebt ist, sei kein Wunder, sagt Cohn. Drei Jahre lang habe er so wenig verdient, dass er nicht einmal Steuern zahlen musste. Und obwohl er rund 400 Patienten mehr im Quartal behandle als vor zehn Jahren, nehme er heute weniger ein. Als er beschloss, das Abitur nachzuholen, habe er bereits gewusst, dass er nichts anderes werden möchte als Hausarzt. Damals war er Mitte 20, arbeitete als Fotograf und sah einen Spielfilm über einen amerikanischen Arzt, der in seinem Dorf Familien zu Hause besuchte, wenn sie krank waren. "Er war für sie wie ein Freund", sagt Cohn. Von der Vorstellung, für andere Menschen so eine Person zu sein, sei er fasziniert gewesen.

Doch bis er sich diesen Traum erfüllen konnte, dauerte es noch Jahre. Zunächst ein Blick zurück. Als er 12 Jahre alt war, verließ seine Familie Israel. Sein Vater war Jude, seine Mutter Protestantin. Sie habe dem Vater 1939 mit Scheidung gedroht, wenn sie Deutschland nicht verlassen, so erzählt Cohn es. Sein Vater sei ein reicher Mann gewesen, mit eigener Klinik, Villa, Auto. Während des Ersten Weltkriegs behandelte er verletzte Soldaten, bekam Ehrungen dafür. "Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihm in diesem Land eine Gefahr droht", sagt Cohn. Doch die Nazis zwangen ihn, sein Auto für fünf Mark zu verkaufen, in seiner Klinik nur noch Juden zu behandeln. "Meine Mutter beschimpften sie als ,Judenhure', irgendwann hielt sie das nicht mehr aus." Sie zogen nach Tel Aviv, doch diese Stadt fühlte sich für seinen Vater nie nach Zuhause an. "Wenn etwas nicht klappte, war sein Lieblingssatz: In Deutschland wäre das nie passiert."

Der Vater von Peter Cohn beschloss, in das Land, in dem seine Tanten und Cousinen im Konzentrationslager ermordet wurden, zurückzukehren. Und für Cohn, damals zwölf Jahre alt, sei mit dem Umzug nach Deutschland die schlimmste aller Vorstellungen Realität geworden. Tatsächlich war der Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg nicht plötzlich verschwunden. In der Schule musste er sich schlimme Sprüche anhören, sagt er: "Hat man dich beim Vergasen vergessen?" "Warum bist du nicht da geblieben, wo du hingehörst?" In der Schule tut er sich dementsprechend schwer: Peter Cohn kann zwar Deutsch sprechen, aber nicht lesen. Alle Bücher, die er mitbrachte, waren hebräisch. Und dann erzählt Cohn noch so eine Geschichte, die ähnlich wundersam klingt wie seine Nahtoderfahrung: Eines Abends, als er in seinen Büchern las, habe ihn sein Vater angeschrien, dass er sie wegpacken und richtig Deutsch lernen solle. Am nächsten Tag sei die Sprache wie aus seinem Kopf gepustet gewesen und erst 30 Jahre später zurückgekommen. "Das ist Psychologie", sagt Cohn. Er glaubt, dass er das Hebräische verlor, weil er es seinem Vater recht machen wollte.

Zwei Jahre nach der Ankunft in Deutschland starb sein Vater an einer Lungenembolie. Cohn beschloss damals, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, träumte davon, als Reisefotograf in fremde Länder zu fahren - doch stattdessen fotografierte er technische Geräte. Irgendwann habe er sich gefragt: "Willst du das die nächsten 30, 35 Jahre machen?"

Jahrelang habe er mit Magengeschwüren zu kämpfen gehabt, erst als er sich entschloss, sich an der Abendschule anzumelden und das Abitur nachzuholen, verschwanden sie. Bis heute seien sie nicht mehr zurückgekehrt - auch nicht in Zeiten, in denen er jeden Abend nach der Arbeit drei Stunden an der Schulbank saß, vier Jahre lang, bis er das Abitur nachgeholt hatte. Und auch nicht, als er während des Medizinstudiums Vollzeit als Krankenpfleger arbeitete - schließlich musste er Geld verdienen, für seine Frau und seine fünf Kinder.

Wenn Cohn von dieser Zeit erzählt, wirkt es, als sei Arbeit nie eine Belastung und das Wort Stress eine Erfindung des modernen Großstadtmenschen. Während des Studiums habe er so viel Zeit für die Kinder gehabt, wie nie zuvor, sagt Cohn - schließlich endete der Schichtdienst als Krankenpfleger manchmal schon am Mittag - "danach sind wir ins Schwimmbad". Cohn spricht solche Sätze aus, ohne wie ein arroganter Überflieger zu wirken. Alles klingt eher so normal, war halt so. Ob er nie Angst hatte zu versagen - zwischen Job, Kindern, Studium, Frau? "Natürlich habe ich mich, wenn eine Prüfung mal nicht so hinhaute, gefragt, ob ich für dieses Studium zu doof bin", sagt er. "Aber ich habe mich nie am Limit gefühlt, weil ich wusste, ich bin genau auf dem Weg, wo ich hin will."

Mit Anfang 40 übernimmt Cohn seine erste eigene Praxis in Schwabing an der Hohenzollernstraße, wo er heute immer noch arbeitet. Am Anfang, als sie renoviert wurde, habe er die Patienten in einer Garage nebenan behandelt. Mehr als 30 Jahre ist das her, manche Patienten von damals kommen immer noch zu ihm. Sein Ziel, so zu werden wie der amerikanische Hausarzt aus dem Spielfilm, habe sich erfüllt, sagt Cohn. Neulich schickte ihm eine Patientin, die in eine andere Stadt gezogen war, eine Packung Schokolade. Eine andere kam vorbei, obwohl ihr nichts fehlte, bloß, um ihm ihr Baby zu zeigen. Cohn sagt, solche Begegnungen seien seine Kraftquelle. "Eine Bekannte fragt mich immer wieder: Wann möchtest du endlich anfangen zu leben?" Was diese Frau nicht verstehe: "Ich lebe doch ganz wunderbar."

© SZ vom 03.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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