Keine Konkurrenz:Wen die Not auch trifft

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Eine reiche Stadt wie München kann beides leisten, bedürftige Bürger unterstützen und Flüchtlinge versorgen. Der Oberbürgermeister betont das ebenso wie die Spendenhilfswerke: Wer Hilfe braucht, dem wird geholfen

Von Christian Krügel und Sven Loerzer

Die ältere Frau am Telefon klingt verzweifelt und bittend zugleich: "Gell", sagt sie, "heuer werde ich von euch kein Packerl bekommen, weil ja alles an die Flüchtlinge geht. Oder?" Anita Niedermeier, Geschäftsführerin des SZ-Adventskalenders, hat einige solcher Anrufe in den vergangenen Wochen bekommen. Die Frau habe sie beruhigen können, sagt Niedermeier: Natürlich werde das Spendenwerk, über das SZ-Leser seit 1948 Menschen in Not helfen, auch heuer wieder Lebensmittelpakete für bedürftige Münchner finanzieren. "Aber solche Anrufe zeigen: Es gibt offenbar eine irrationale Angst bei vielen Hilfsbedürftigen, zu kurz zu kommen", sagt Niedermeier. Und solche Irrationalität gebe es auch bei manchem Spender: Einige hätten schon jetzt angekündigt, heuer nichts mehr geben zu wollen - um nur ja nicht Asylbewerber zu unterstützen.

Münchens Sozialreferentin Brigitte Meier (SPD) kann das Verhalten nicht verstehen. Allenfalls eine Erklärung hat sie dafür: "Die mediale Aufmerksamkeit richtet sich auf die Flüchtlinge. Andere Themen kommen da in der Wahrnehmung zu kurz", sagt sie. Die Bilder Tausender Menschen, die vor Krieg, Tod und Zerstörung nach Bayern fliehen, die anonymen Schicksale vieler fremder Menschen - bei manchem Bürger entstehe der Eindruck, jede andere Hilfe für Menschen in schwierigen Lebensverhältnissen müsse künftig zu kurz kommen. Es ist die Sorge, plötzlich in einen Konkurrenzkampf der Hilfsbedürftigkeit gedrängt zu werden, in eine Einteilung Notleidender erster, zweiter und dritter Klasse. Und es ist eine Sorge, die mancher Politiker auch befeuert mit Sprüchen wie: "Gewählte Volksvertreter üben weit größere Solidarität mit Flüchtlingen aus aller Welt als mit den eigenen Bürgern." Sätze dieser Art haben zwar die Zornedinger CSU-Vorsitzende Sylvia Boher ihren Posten gekostet. Aber die Versuchung, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen, ist bei manchen Parteifunktionären offenbar groß. Der Dachauer CSU-Landtagsabgeordnete und örtliche Rotkreuz-Chef, Bernhard Seidenath, erntete im Oktober eine bundesweite Protestwelle, weil sein Kreisverband Asylbewerber von der Lebensmittelausgabe der örtlichen Tafel ausschließen wollte. Seidenath und sein BRK gaben schließlich eine Erklärung ab, in der sie versprachen: "Es wird niemand ausgegrenzt" - auch nicht in anderer Richtung.

Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) spricht von einem "Grundrauschen der Besorgnis". Diese Sorge entbehre aber jeder Grundlage: "Keine einzige Sozialleistung ist in München gekürzt worden, es gibt keine Einsparungen bei Sozialbürgerhäusern, Stadtteilzentren oder ähnlichem", betont Reiter. Die Stadt müsse auch gar nicht die Hilfe für die einen gegen die Hilfe für die anderen aufrechnen. "München kann das finanziell stemmen und wird es auch weiterhin tun. Der städtische Sozialetat ist mit mehr als einer Milliarde Euro auch im nächsten Haushalt einer der größten Posten", so der OB. Dazu komme, dass der wesentliche Teil der Kosten für Flüchtlinge von Bund und Land übernommen werde. Tatsächlich hat das Rathaus erst vor Kurzem beschlossen, auch weiterhin die Grundsicherung im Alter aufzustocken - als einzige Großstadt in Deutschland. Sie baut die Hilfen für alte Menschen in den Alten- und Servicezentren aus. "Das ist ein deutliches Signal", sagt Sozialreferentin Meier.

Das gelte auch für die Zukunft, auch für die Frage nach genügend günstigem Wohnraum, verspricht Dieter Reiter. Darüber war es im Sommer zum Streit mit seinem Vize Josef Schmid (CSU) gekommen, der indirekt einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingskrise und Wohnungsmangel hergestellt hatte . Das hatte Reiter damals ziemlich erbost: "Wer das behauptet, der zündelt - mit hohem Risiko für den gesellschaftlichen Frieden in unserer Stadt." Und er bleibt dabei: "Es wird keine Sozialwohnung weniger gebaut. Im Gegenteil: Wir werden uns noch mehr anstrengen, noch mehr günstige Wohnungen für Menschen zu bauen, die darauf angewiesen sind - egal woher sie kommen." Denn mittelfristig würden auch viele Flüchtlinge zu Münchnern, "die hier möglichst gut integriert sind, arbeiten und Steuern zahlen", sagt Reiter. Er hofft, dass sich die Ängste vor einem Konkurrenzkampf der Bedürftigkeit zerstreuen, auch durch einen bürgerschaftlichen Grundkonsens: "Die Zustimmung zu unserem Weg im Umgang mit Flüchtlingen ist weiterhin groß", schließt Reiter aus Rückmeldungen in seinen Bürgersprechstunden.

Der bürgerschaftliche Grundkonsens: Darauf bauen auch die Münchner Spendenwerke und Stiftungen. Viele von ihnen hatte Christoph Klein, Chef des Haunerschen Kinderspitals, am Mittwochabend zur Verleihung des Bayerischen Stifterpreises in die Residenz eingeladen. Das Flüchtlingsthema sparte er bewusst nicht aus, im Gegenteil: Er forderte in einer leidenschaftlichen Rede, sich Leid, Not und Krankheit zu stellen - egal, wen sie treffe. Klein erhielt viel Applaus, und auch Anita Niedermeier hofft auf Anerkennung für Hilfe, die ohne Ansicht der Person und Herkunft geleistet werde. Darum sei es beim SZ-Adventskalender immer gegangen: nie nur Kinder oder Kranke, Behinderte oder Alte, Einheimische oder Neuankömmlinge in den Mittelpunkt zu stellen, sondern alle im Auge zu haben. "Wir dürfen niemanden aus dem Blick verlieren", sagt Niedermeier.

© SZ vom 21.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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