Kaugummis zum Rausdrehen:Lust auf die bunten Kugeln

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Weil Süßes heute überall zu haben ist, durchleben die roten Kästen an den Straßenecken schwere Zeiten.

Philipp Crone

Oliver hat diesen Blick. Ungeduldig, abwesend, voller Erwartung, fokussiert auf einen roten Metallkasten am Straßenrand. Der Zwölfjährige dreht an einem schwarzen Handgriff und hört genau hin. Die Münze, die er gerade in den Schlitz der eisernen Mechanik gesteckt hat, wird - tacktacktack - verschluckt.

Oliver wartet auf das Klacken, mit dem eine Kugel in den Schacht fällt, dann geht es ganz schnell: Klappe auf und zugefasst. Die goldene Alufolie um den murmelgroßen Ball wehrt sich nur kurz, verschwindet knisternd in Olivers Hand, die knallrote Kugel in seinem Mund.

Nach drei kräftigen Bissen entfaltet der Zucker seinen pappigen Geschmack, Oliver wendet seinen Blick vom Kaugummiautomaten und geht, zufrieden mampfend, weiter seinen Schulweg.

Der ist versüßt - und Walter Modde zufrieden. So etwas sieht der 56-Jährige nicht so oft, obwohl er an jedem Arbeitstag nur mit solchen roten Kästen zu tun hat.

Seit die Amerikaner den Kaugummi im Nachkriegsdeutschland etablieren haben, gehören Kaugummiautomaten zu jeder ordentlichen Straßenkreuzung wie Ampeln oder Verkehrsschilder. Und Automatenaufsteller wie Walter Modde stellen sicher, dass die Magazine mit den bunten Kugeln immer gut gefüllt sind.

Täuscht der Eindruck, dass die roten Institutionen am Straßenrand seit einiger Zeit seltener zu sehen sind? Sterben die Kaugummiautomaten am Ende sogar aus? "Das nicht", sagt Modde, "aber das Geschäft ist seit Jahren rückläufig." Die Gründe dafür sieht, wer den gelernten Maurer auf seiner Automaten-Tour durch München begleitet.

Walter Modde, braungebrannt, grau meliertes Haar, schließt in der Schleißheimer Straße einen Kasten auf und wechselt die vier verschiedenen Magazine aus. Vor drei Monaten war er zuletzt hier, die Behälter sind aber noch fast voll. Der Grund dafür: "Der Standort ist nicht optimal."

Da 95 Prozent seiner Kunden zwischen vier und 13 Jahren alt sind, sollte ein Automat möglichst an einem gut besuchten Schulweg hängen, sagt er. Etwa an Kreuzungen, Bushaltestellen oder Schulgebäuden.

Die Konkurrenz wartet an jeder Ecke

Hier ist nichts dergleichen zu sehen. Aber immerhin darf Modde an dieser Wand einen Kasten aufhängen. Der beste Standort nützt dem Aufsteller nichts, wenn der Hausbesitzer den Platz an seiner Wand nicht vermieten will. Meist mit dem Argument, die Kinder machten zu viel Lärm. Wird eine Fassade frisch renoviert, wird oft der Automaten-Mietvertrag gleich mitgekündigt.

20 Prozent der Einnahmen stehen zwar dem Hausherrn zu, das sind aber manchmal nicht mehr als 20 Euro im Jahr. "Dafür wollen die sich keine Löcher in die schöne neue Hauswand bohren lassen."

Für Moddes Chef Johannes Viehauser ist auch die Konkurrenz ein Problem. "Heute bekommen die Kinder doch in jedem Laden und an jeder Tankstelle fast rund um die Uhr Süßigkeiten."

Modde öffnet die Tür zum Laderaum seines Kleinbusses. Hier lagert der Vorrat. Auf zwei Regale verteilt, stehen an die 350 Magazine voller Kaugummis in allen Farben und Größen; dazu Ringe, Ketten, Armbänder. Modde wählt aus, baut ein, schließt ab. In München ist er Herr über rund 1200 Automaten an 400 Standorten.

Für einen Wechsel braucht er kaum zwei Minuten, die meiste Zeit sitzt er am Steuer. Es dauert drei Wochen, bis alle Magazine Münchens ausgewechselt hat. Insgesamt ist er für 5000 Automaten in Süddeutschland zuständig.

Der nächste Kasten ist nicht weit, vier Querstraßen weiter. Eine Mechanik ist kaputt, jemand hat ein Alupapier in den Münz-Schlitz gesteckt. "Mittlerweile muss ich jeden Tag ein Magazin austauschen. Als ich vor zehn Jahren mit diesem Job angefangen habe, kam das höchstens einmal in der Woche vor."

Meist wird mit einem Feuerzeug ein Loch in die Plexiglasscheibe geschmolzen. Was an Kaugummis übrig bleibt, lockt Bienen und Wespen an. Der komplette Inhalt ist verloren. "Ich habe auch schon gesehen, wie Jungs mit Anlauf gegen die Kästen gesprungen sind, um sie kaputt zu kriegen." Bis so ein Automat nach der Reparatur wieder Gewinn bringt, vergehen zwei Jahre, sagt Modde.

Meist aber wird der Familienvater herzlich empfangen, bei den Kindern heißt er nur "Kaugummimann". Und als solcher kann er den kleinen Kunden manchmal auch helfen. So wie neulich einem Mädchen, das eine 50 Cent-teure Kette kaufen wollte. Dafür steckte sie fünf Zehnerl hintereinander in den Münzschlitz.

Doch nach der letzten Münze tat sich nichts, das Mädchen war den Tränen nahe. Modde hatte sie beobachtet, stieg aus und erklärte ihr, dass der Automat nur ein 50 Cent-Stück akzeptiere. Dann öffnete er den Behälter und reichte ihr das Gimmick. Sie dankte dem Kaugummimann und zog fröhlich hüpfend von dannen.

Eine Frage des Taschengelds

Oliver, der zu Beginn der Geschichte den Kaugummi erstanden hat, wird den zerkauten Klumpen in diesem Moment entsorgen, weil er jetzt nur noch nach Plastik schmeckt. Handgestoppte 2,5 Minuten hält der süße Geschmack so einer roten Kugel an, das ist in etwa so lange, wie man braucht, um diese Geschichte bis hierher zu lesen.

Aber es gibt seit einiger Zeit auch andere Kaliber. Zum Beispiel den Renner dieses Jahres: "Center Shock". Dieses beige Viereck ist in den ersten Kau-Sekunden so sauer, dass man das Gesicht verzieht. An der nächsten Station in der Kreittmayerstraße ist eines von drei Magazinen leer gekauft - jenes mit den "Center Shocks".

Walter Modde hat dreißig Jahre lang als Verputzer auf dem Bau gearbeitet, dann stand er plötzlich auf der Straße. Eigentlich ist er kein Kaugummifan, isst höchstens mal einen pro Tag, "um den Hunger unterwegs zu unterdrücken". Aber er schwärmt von seinem Beruf. Bei einigen Touren über Land gibt es regelmäßig Plausch und Kaffee.

Gründe für den stetigen Umsatzrückgang sieht Thomas Witt, Geschäftsführer des Bundesverbands der Warenautomatenaufsteller, vor allem in der Währungsumstellung.

"Seitdem die Automatenaufsteller statt Pfennigen Cent verlangen müssen, ist der Preis gestiegen." Der Kaugummi kostete früher zehn Pfennige, jetzt zehn Cent. Bei einer hundertprozentigen Preiserhöhung kommt das Taschengeld nicht mehr mit.

Ergebnis der rückläufigen Verkaufszahlen: Immer weniger Firmen stellen immer mehr Automaten auf, sagen sowohl Viehauser als auch Witt. In München hat Moddes Firma Oryx im vergangenen Jahr 30 zusätzliche Magazine aufgehängt. Der Umsatz pro Kasten und Jahr liegt je nach Standort etwa zwischen 50 und hundert Euro.

Das sind mindestens 15 Prozent weniger als noch vor zehn Jahren, klagt Modde. Umso mehr ist seine Branche auf die Automaten-Hochsaison angewiesen: die letzten Wochen vor den großen Ferien. Die Kinder sind in Urlaubsstimmung und geben ihr Geld leichter aus. Schlecht läuft es dagegen traditionell im Winter und in den Ferien.

Doch Walter Modde glaubt an die Zukunft der roten Automaten. Nur seien die Kinder anspruchsvoller geworden, das klassische Sortiment reiche nicht mehr aus. Man müsse immer neue Süßigkeiten anbieten, sagt er. Die klassische Kugel mit Geschmack für gut zwei Minuten werde vielleicht bald Geschichte sein, "doch die Kästen überleben".

Denn momentan sieht es gut aus. Der "Center Shock" wird voraussichtlich Ende Juli vergriffen sein. Hätte sich Oliver übrigens einen solchen neumodischen Schocker gekauft, der Geschmack hielte immer noch an. Mindestens noch die Lesezeit für zwei weitere Artikel auf dieser Seite.

© SZ vom 1.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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