Jugendgewalt:Prügeln ohne Grenzen

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Die Jugendgewalt sinkt zwar laut Statistiken. Aber ein harter Kern von Intensivtätern kennt keine Hemmschwellen mehr. Ob der Einsatz von mehr Sicherheitskräften hilft, ist umstritten.

Tanjev Schultz

Früher war bei einer Schlägerei irgendwann Schluss. Man lernte aufzuhören, sobald einer am Boden lag, sagt der Pädagoge Frank Beuster, Autor des Buches "Die Jungenkatastrophe".

Heute raufen viele, ja die meisten Jugendlichen überhaupt nicht mehr - dafür schlagen andere umso enthemmter zu. Wenn zwei junge Täter einen 50-Jährigen in München an der S-Bahn-Station mit mehr als 20 Tritten zu Tode treten, ist ein Maß an Verrohung erreicht, das auch erfahrene Pädagogen und Psychologen ratlos macht. "Bei den Tätern muss es eine radikale Welt- und Werteumdeutung gegeben haben", sagt Beuster.

Ihre Brutalität kann er sich nur so erklären, dass die Täter sich selbst ständig in einer Opferrolle sahen und daraus das Recht ableiteten, mit grober Gewalt gegen ihre vermeintlich feindliche Umwelt vorzugehen. "Oft sind das Jungen, die als Kind selbst nie erfahren haben, dass man auch ihre Grenzen achtet", sagt Beuster. Studien belegen, dass viele Gewalttäter als Kinder und Jugendliche selbst Opfer von Gewalt gewesen sind. In vielen Fällen kamen die Schläge auch von den Eltern. Umfragen zufolge wird etwa jeder vierte Schüler von seinen Eltern geschlagen oder misshandelt.

Polizisten beklagen, die Hemmschwelle, andere schwer zu verletzen, würde bei manchen schon in sehr jungen Jahren sinken. Ein harter Kern von Intensivtätern suche regelrecht nach einem - meist völlig nichtigen - Anlass, um auf andere loszugehen.

Enthemmte Täter lassen sich nicht einschüchtern Die Jugendgewalt insgesamt steigt aber keineswegs. Im vergangenen Jahr verringerte sich die Zahl der erfassten schweren und gefährlichen Körperverletzungen, die von Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren verübt wurden, bundesweit um fast sechs Prozent im Vergleich zu 2007. Die Polizei sieht darin einen Erfolg ihrer Präventionsarbeit. An immer mehr Schulen gibt es mittlerweile Programme, die den Jugendlichen den richtigen Umgang mit ihren Aggressionen beibringen sollen.

Die Sensibilität für das Thema sei in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, sagt der Sozialpsychologe Herbert Scheithauer, Professor an der Freien Universität Berlin. Er warnt davor, aus einzelnen brutalen Fällen zu schließen, dass die Gesellschaft insgesamt verrohe. Belastbare Langzeitstudien gebe es dazu nicht.

Allerdings sei auffällig und bedenklich, wie stark in manchen Fernsehsendungen und Computerspielen Gewalt verherrlicht werde. Bei labilen Jugendlichen, denen das Gefühl für Grenzen fehlt, könnten die Medien die Hemmschwellen weiter senken. Wer Gewalttaten verhindern wolle, müsse sich aber vor einfachen Lösungen hüten.

Kaum war die Nachricht von der Attacke auf dem Münchner S-Bahnhof in der Welt, forderten einige Politiker wieder einmal schärfere Jugendstrafen. Andere erhoffen sich eine höhere Sicherheit von mehr Wachleuten und Überwachungskameras. Viele Experten bezweifeln jedoch, dass enthemmte Täter sich davon wirklich einschüchtern lassen. Erfahrungen in England und Berlin zeigen, dass die Zahl der Straftaten trotz installierter Videokameras steigen kann.

Ein komplexer Kampf für gute Erziehung Allerdings können die Kameras dabei helfen, die Täter zu finden und vor Gericht zu bringen. Die Zahl der patroullierenden Wachleute und Polizisten zu erhöhen, scheint am wirkungsvollsten zu sein. Professor Scheithauer hält jedoch auch hier "paradoxe Effekte" für möglich. Wenn Fahrgäste in der U- und S-Bahn ständig bulligen, womöglich sogar bewaffneten Wachleuten begegnen, kann dies das subjektive Sicherheitsempfinden ins Negative verkehren - nach dem Motto: Wenn da ständig Aufpasser sind, muss es wohl sehr gefährlich sein, sich hier aufzuhalten. Und trotz erhöhter Präsenz wird es ja Momente geben, in denen gerade kein Sicherheitspersonal in Sicht ist.

Außerdem können Wachleute auf bestimmte Gewalttäter zusätzlich provozierend wirken, so wie Hooligans im Stadion oder manche Randalierer bei Demonstrationen gezielt eine Auseinandersetzung vor den Augen oder direkt mit den Polizisten suchen. Es sei sehr schwer, für Attacken, bei denen die Täter völlig ausrasten, das richtige Gegenmittel zu finden, sagt Scheithauer.

Fast ist man geneigt, resignativ Friedrich Schiller an den Schluss zu setzen: "Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens." Doch den Kampf gegen dumme, enthemmte Gewalt kann und muss man aufnehmen - auf vielen Ebenen, ohne simples schnelles Rezept. Es ist ein komplexer Kampf für intakte Familien und eine gute, zivile Erziehung und Bildung der Kinder, für helle öffentliche Räume und eine vitale Zivilgesellschaft mit couragierten Bürgern und vielen helfenden Polizisten und Pädagogen.

© SZ vom 15.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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