Jugendamt:"Es darf keine Opferhaltung entstehen, die eine Familie lähmt"

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Seit August leitet die Psychologin Esther Maffei das Münchner Stadtjugendamt. (Foto: Robert Haas)

Esther Maffei spricht über Kinder, die schwer krank sind oder Behinderungen haben, und über Belastungsproben für die Angehörigen

Interview von Sven Loerzer, München

Kinder, die an schweren Krankheiten leiden oder Behinderungen haben, müssen lernen, im Alltag damit zurechtzukommen. Für die Eltern, aber auch für die Geschwister ist es nicht leicht, sich auf die besonderen Anforderungen einzustellen. Esther Maffei, Psychologin und Chefin des Münchner Jugendamts, kennt die Nöte der Familien und ihrer Kinder.

SZ: Wie erleben Kinder Krankheit und Behinderung?

Esther Maffei: Kinder befinden sich in der Entwicklung. Sie müssen sich bei jedem Entwicklungsschritt wie zum Beispiel bei der Einschulung oder der Pubertät neu mit der Behinderung oder der Krankheit und den damit verbundenen Einschränkungen auseinandersetzen. Für das Kind ist es immer wieder eine neue Herausforderung, mit diesen Einschränkungen zurechtzukommen und zu sehen, wo es in der Gesellschaft teilhaben kann.

Ist es schwieriger, Freunde zu finden?

Wenn man öfter krank ist, wird es schwieriger, Freunde zu finden und Kontakte zu halten. Dabei ist der Umgang mit Gleichaltrigen wichtig für die Identitätsbildung. Für Kinder gerät der Alltag aus den Fugen, wenn sich die Krankheit verschlimmert oder ein Krankenhausaufenthalt ansteht, und man dann mit Freunden nichts ausmachen kann. Das kann für Freundschaften eine Belastungsprobe sein.

Leidet auch die Familie?

In der Familie dreht sich natürlich ganz viel um die Krankheit oder die Behinderung. Die Krankheit bestimmt den Lebensalltag. Wenn noch Geschwister da sind, müssen sie zurücktreten, weil zuerst die Forderungen, die eine Krankheit oder die Behinderung an die Familie stellt, erfüllt werden müssen. Deswegen ist es wichtig, an die Geschwisterkinder zu denken, ihre Bedürfnisse auch zu berücksichtigen.

Eltern schildern es oft als Schock, wenn sie erfahren, dass ihr Kind schwer krank oder schwerbehindert ist.

Mütter und Väter machen sich Vorstellungen von der Zukunft ihres Kindes, wenn es zur Welt kommt: Wo und wie das Kind aufwachsen soll. Wenn ein Kind nun krank oder behindert zur Welt kommt, werden viele Überlegungen und Wünsche unrealistisch. Die Vorstellungen vom gemeinsamen Leben mit diesem Kind müssen sich verändern. Das ist ein Schock und ein gewisser Teil Trauer, auch Wut ist dabei: Warum trifft es gerade mein Kind? Dann ist es wichtig, dass Eltern gestützt werden, damit sie die Zeit und die Möglichkeit haben, diesen Schock aufzuarbeiten. Die Eltern müssen ja nicht nur die Behandlungen planen, sondern sich zudem auch überlegen, wie gestalten wir ein künftiges Familienleben? Sollen Krankheit oder Behinderung tatsächlich der Mittelpunkt unseres Lebens sein? Oder gibt es Unterstützung, Strategien und Möglichkeiten für einen positiven Ausblick auf das Familienleben?

Wie wirkt sich das auf den Alltag aus?

Die Gestaltung des Alltags ist eine große Herausforderung, da oft durch die Behandlungen nur wenig Zeit für ein Familienleben bleibt. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen für die Paarbeziehung, auch die Geschwisterkinder brauchen Aufmerksamkeit und Zuwendung. Ein Aspekt dabei sind gemeinsame Unternehmungen, so dass Kinder, Mütter und Väter nicht in soziale Isolation abrutschen. Denn dadurch wird das gedankliche Kreisen um die Krankheit noch verstärkt, weil dann kein soziales Umfeld unterstützen kann, das ein Stück Normalität in die Familie bringt.

Zu viel Sorge schadet den Kindern.

Normale Entwicklungen der Kinder können als Bedrohung empfunden werden. Die Verselbstständigung der Kinder zum Beispiel: Wie viel kann man dem Kind zutrauen? Lass ich es ein paar Stunden weggehen mit Freunden - man weiß ja nie, was passiert. Das ist nachvollziehbar. Bei Eltern, die sich Sorgen um ihre kranken oder behinderten Kinder machen, ist es noch schwieriger zu entscheiden, was lasse ich das Kind alleine machen, und wo kann ich es nicht alleine lassen. Hier ist Unterstützung und Beratung hilfreich, damit auch kranken und behinderten Kindern und Jugendlichen ihrem Alter entsprechend und unter Berücksichtigung ihrer Einschränkungen Autonomie und Selbständigkeit ermöglicht werden kann.

Können Familien unter der Belastung auch zerbrechen?

Das Familienleben ist oft so organisiert, dass aufgrund der Krankheit oder Behinderung ein Elternteil nicht mehr arbeitet und sich nur noch um die Pflege des Kindes kümmert. Für diesen Elternteil bedeutet das weniger Außenkontakte und auch finanzielle Nachteile. Der eine Elternteil fühlt sich dann eventuell zu wenig unterstützt und der andere meint, er tut ohnehin schon zu viel, damit nicht noch weitere finanzielle Einbußen entstehen. Da können heftige Konflikte in der Ehe entstehen. Diese werden oft noch verschärft durch die wenige Zeit, die man füreinander hat, um diese Dinge zu besprechen. Das ist eine große Belastungsprobe. Ein gutes soziales Netz ist daher ein wichtiger Rückhalt. Es braucht Menschen, die in die Familie gehen - neben Verwandten und Freunden auch Pflegekräfte, damit die Eltern mal Zeit füreinander haben und nicht die ganze Familie in die Depression abrutscht oder eine Art Opferhaltung entsteht, die eine Familie lähmen kann.

Finanzielle Sorgen verschärfen die Lage.

Auf jeden Fall. Wenn das Geschwisterkind an einer Freizeitaktivität mit Freunden nicht teilnehmen kann, weil es sich die Familie nicht leisten kann, verstärkt das die soziale Isolation erheblich. Armut ist an sich schon eine Belastung, aber im Zusammenhang mit Krankheit und Behinderung wird diese Belastung enorm verstärkt.

Wie kann man den Familien helfen?

Wichtig ist vor allem die Unterstützung mit sozialen Netzwerken, aber auch die Entlastung, zum Beispiel durch Kurzzeitpflegeplätze. Spenden können zumindest im wirtschaftlichen Bereich helfen. Auch Freizeitaktivitäten helfen. Das Stadtjugendamt bietet hier insbesondere für die Geschwisterkinder die Möglichkeiten des Ferien- und Familienpasses. Wichtig ist, dass die Familien den Anschluss an die Gesellschaft nicht verlieren - und zwar weder die Kinder noch die Eltern.

Wo kann das Jugendamt unterstützen?

Das Jugendamt hat die Aufgabe, Kindern mit Behinderungen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und dafür Angebote zu schaffen, die alle Kinder einbeziehen. Ein Achtjähriger, der die Förderschule besucht, hat zu mir gesagt, er sei nun ein "besonders Gestörter". Wenn ein Kind in diesem Alter ein solches Selbstbild entwickelt, da tut mir das Herz weh. Wir müssen Kinder in ihrer Gesamtheit betrachten und keinesfalls auf ihre Behinderung oder Krankheit reduzieren. Für ihre Teilhabe an unserer Gesellschaft zu sorgen, ist mir ein wirklich wichtiges Anliegen.

© SZ vom 02.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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