Jubiläum:Bitte keine Komödien

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Marlies Kirchner ist noch immer jeden Tag im Kino anzutreffen, an der Kasse oder im Vorführraum. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Marlies Kirchner leitet seit 60 Jahren das Theatiner Kino. Sie hat bislang jeden Film gesichtet, der bei ihr läuft - bis auf einen

Von Jürgen Moises, München

"Die Überglücklichen" war ein sehr schöner Film, oder auch "Der Himmel kann warten". Ansonsten war 2017 für Marlies Kirchner bisher eher ein schwaches Kinojahr, mit vielen Komödien, aber nur wenigen so richtig guten Filmen. Dass sie das sagen kann, liegt daran, dass die Betreiberin des Theatiner-Filmkunst-Kinos noch immer jeden Film persönlich sichtet, bevor er bei ihr im eleganten, im besten Sinne altmodischen Vorführsaal mit seiner Ahorntäfelung und der auffälligen Seitenbalustrade im Original mit Untertitel über die Leinwand flimmert. Einen Film zu zeigen, den sie nicht vorher gesehen hat, dass ist der 87-Jährigen nur einmal in den 60 Jahren passiert, seit sie das Kino in der Theatinerpassage in München leitet. Und der hat sich dann als "schreckliche Komödie" entpuppt.

Nicht dass Marlies Kirchner Komödien nicht mag. Aber dass ihr Herz doch eher für andere Filme schlägt, das zeigt schon die wunderbare, historische Poster-Galerie im Eingangsbereich des denkmalgeschützten Kinos. Plakate von Filmen wie "Mouchette" und "Sansho Dayu", "The Big Sleep" oder "Die Geschichte der Nana S." hängen dort an der Wand. Aber ein noch besserer Tipp, um in die Filmwelt von Marlies Kirchner einzutauchen, ist, sich die Filme der noch bis zum 16. August laufenden Jubiläumsreihe im Theatiner anzuschauen. Mit "Masculin - Féminin" von Jean-Luc Godard etwa, der am Freitag um 18.15 Uhr läuft, "Hafen im Nebel" von Marcel Carné oder Pasolinis "Große Vögel, kleine Vögel" sind darin einige ihrer Lieblingsfilme vertreten.

Auch "To Have And Have Not" mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall, der am Sonntag um 11 Uhr in der "Happy Birthday"-Matinee läuft, sollte man sich im Terminkalender ankreuzen. Der berühmte Film von Howard Hawks war der erste, den Marlies Kirchner 1976 eigenverantwortlich, das heißt als Programmleiterin zeigte. Die 20 Jahre davor wurde das Filmprogramm im Theatiner vom Filmverleih "Neue Filmkunst" in Göttingen gestaltet. Der hatte das Kino 1957 einem Landwirt aus Freising abgekauft, der darin zuvor ein Jahr lang Musicals und Western laufen ließ. "Weil er die selbst gerne mochte", wie Kirchner vermutet. Vom Kinogeschäft hatte er als Landwirt aber keine Ahnung.

Das hatte auch Marlies Kirchner nicht, als sie am 13. August 1957 die Kinoleitung übernahm. Aber sie hatte wie der Landwirt eine große Kino-Leidenschaft, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg bei Kinobesuchen mit ihrer Mutter in Bochum geweckt wurde. Außerdem arbeitete mit Ernst Liesenhoff einer ihrer drei Brüder im Filmgeschäft, zunächst als Mitglied eines Göttinger Filmclubs, dann als Mitgründer und Mitarbeiter bei der "Neuen Filmkunst". Über ihren Bruder Ernst landete auch die junge Marlies bei dem für die deutsche Kinogeschichte wichtigen Verleih. Dort wurde 1953 jemand mit Fremdsprachenkenntnissen für den Schriftverkehr gesucht, und Marlies Liesenhoff, wie sie damals noch hieß, besuchte zu dieser Zeit in Montreux eine Sprachenschule.

Langjähriger Geschäftsführer der "Neuen Filmkunst" war Walter Kirchner, der spätere Ehemann von Marlies Kirchner. Und als im Verleih die Frage aufkam, wer das übernommene Kino in München leiten soll, sagte Marlies Kirchner: "Ich mach das!" Plötzlich fand sie sich in einer anderen Stadt als "Oberaufsicht" in einem Kino wieder, saß an der Kasse und war, gibt sie zu, "geschäftlich erst mal überfordert". Aber sie lernte es, zusammen mit ihren Mitarbeitern an der Kasse, an der Garderobe, an der Süßigkeiten-Theke und im Vorführraum den Kinoalltag zu organisieren. Und vor allem: Sie durfte fast jedes Jahr nach Cannes fahren und auf andere Filmfestivals in Hof oder Berlin und sich in Branchen- und Pressevorführungen unzählige Filme anschauen. Das ist es, was sie auch heute noch am Liebsten macht.

Aber auch an der Kasse ist sie immer noch fast jeden Tag zu finden, und ruft man im Kino an, ist meistens Marlies Kirchner persönlich am Apparat. Dieses bis heute ungebrochene Engagement hat der Kinobetreiberin über die Jahre ein treues Stammpublikum und einen genauso treuen Stab an Mitarbeitern eingebracht. Dazu gehört etwa der Filmvorführer und Leiter des Werkstattkinos Bernd Brehmer, der zusammen mit Kirchner die Jubiläumsreihe organisiert. Er hat bereits als Jugendlicher im Theatiner als Filmvorführer angefangen und ist es unter anderem deswegen bis heute geblieben, weil er in seiner Chefin eine Verbündete in der Verteidigung des analogen Films hat. Zwar musste auch das Theatiner irgendwann die digitale Filmprojektion einführen. Das Jubiläumsprogramm findet aber fast ausschließlich analog statt.

Darin, dass Kirchner es schafft, Menschen für viele Jahre ans Theatiner zu binden, sieht jedenfalls auch Brehmer eine ihrer größten Qualitäten. Das hat man auch an anderer Stelle erkannt und der Münchnerin zahlreiche Programmkinopreise verliehen. Im vergangenen Jahr bekam sie die Berlinale Kamera, in diesem Jahr die Medaille "München leuchtet".

Preise, die für sie persönlich nicht so wichtig sind, deren Preisgelder ihr aber helfen, ihr Kino mitzufinanzieren. Denn ohne Unterstützung könnte ein Arthouse-Kino mit nur einem Saal, das weiß sie, im heutigen Event-Zeitalter gar nicht existieren. Trotzdem: Ans Aufgeben hat Marlies Kirchner nie gedacht, sie will in nächster Zeit aber etwas kürzer treten. "Das hat sie schon oft gesagt", meint Bernd Brehmer. Und bei einer Frau, die seit 60 Jahren im und für und durch das Kino lebt, kann man sich das ehrlich gesagt nur schwer vorstellen.

© SZ vom 11.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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