Jahres-Statistik:1000 Kinder leiden unter Gewalt in Familie

Lesezeit: 4 min

Prügelnde Väter: Fast jeden Tag muss die Münchner Polizei in zwei Familien mit Kindern gewalttätige Auseinandersetzungen beenden.

Sven Loerzer

Seit August 2007 erhält das Stadtjugendamt alle von der Polizei verfassten Kurzberichte über Einsätze wegen "häuslicher Gewalt" in Familien mit Kindern, damit Sozialarbeiter sich wegen einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls einschalten können. In einer ersten Auswertung für den Zeitraum eines Jahres, die der SZ vorliegt, verzeichnet das Jugendamt 646 Fälle von häuslicher Gewalt, die von der Polizei dokumentiert wurden.

Fast jeden Tag muss die Polizei in zwei Familien mit Kindern gewalttätige Auseinandersetzungen beenden. (Foto: Foto: iStock)

"Wenn die Polizei kommt, dann haben die Nachbarn schon Schreie gehört oder die betroffenen Frauen rufen selber an - da fliegen Gegenstände", verdeutlicht Stadtjugendamtschefin Maria Kurz-Adam das Geschehen und tritt dem Klischee vom "Familiendrama" entgegen, denn tatsächlich handle es sich fast immer um gewalttätige Männer: In 96 Prozent der Fälle seien Frauen die alleinigen Opfer, mehr als die Hälfte von ihnen trug erkennbare Verletzungen davon. In drei Fällen verlief die Auseinandersetzung sogar tödlich. Der Anteil der Gewalt-Beschuldigten nichtdeutscher Staatsangehörigkeit liegt mit 65 Prozent fast drei Mal so hoch, wie nach dem Bevölkerungsanteil zu erwarten wäre.

Zwar sind die Kinder selten selbst von körperlichen Angriffen betroffen, aber sie leiden seelisch unter der Gewalt. "Lange Zeit herrschte die Haltung, das Miterleben von elterlicher Gewalt gefährde nicht das Kindeswohl", sagt Kurz-Adam. "Doch heute weiß man, dass in diesen Fällen das Kindeswohl durchaus gefährdet ist. Wir müssen den Kindern in dieser Situation helfen, sie brauchen unsere Betreuung und Unterstützung."

Kontaktverbot als Sofortmaßnahme

Die meisten Einsätze wegen häuslicher Gewalt in Familien mit minderjährigen Kindern hatte die Polizei im Einzugsgebiet der Sozialbürgerhäuser Ramersdorf-Perlach (69), Neuhausen-Moosach (62) und Milbertshofen-Am Hart (59). Die wenigsten Fälle, 30, gab es in Feldmoching-Hasenbergl. Doch Gewalt gibt es keineswegs nur in sozial sehr belasteten Familien, sondern auch bis hinauf in die obersten Schichten der Gesellschaft, betont Kurz-Adam. Die könnten dies aber nach außen hin besser abschirmen.

Der Schwerpunkt der Einsätze liegt in den Abendstunden, 38 Prozent der Fälle ereignen sich zwischen 18 und 24 Uhr, 23 Prozent zwischen 0 und 6 Uhr. In 87 Prozent aller Fälle waren die Kinder anwesend, während sich Gewaltszenen abspielten. In 15 Fällen wurden Kinder verletzt. Betroffen von der Gewalt in ihrer Familie waren 1044 minderjährige Kinder. "Die meisten von ihnen, 54 Prozent, sind im Alter bis zu sechs Jahren", sagt Kurz-Adam, also besonders hilflos der belastenden Situation ausgesetzt.

Am häufigsten, in 61 Prozent der Fälle, verhängt die Polizei als Sofortmaßnahme ein zehntägiges Kontaktverbot gegen die Beschuldigten. In knapp einem Drittel der Fälle werden Alkoholtests durchgeführt. Mehr als sieben Prozent der Fälle enden mit einer vorläufigen Festnahme.

Zugang zu Betroffenen oft nicht leicht

Annähernd die Hälfte aller Familien, in denen es zum Polizeieinsatz kam, war den städtischen Sozialarbeitern zuvor nicht bekannt. Gerade deshalb sei der Polizei für ihre Initiative zur Weiterleitung der Kurzberichte ganz besonders zu danken, sagt Maria Kurz-Adam, weil sich so Sozialarbeiter um die Opfer kümmern und alles unternehmen könnten, um eine Gefährdung des Kindeswohls zu verhindern. "In jedem Fall machen wir einen Hausbesuch, um unsere Hilfe anzubieten", sagt der Sozialpädagoge Arthur Mosandl vom Stadtjugendamt. Allerdings gestalte sich der Zugang mitunter schwierig, vor allem wegen des hohen Migrantenanteils.

Trotz erlittener Gewalt seien die Frauen oft nicht bereit, sich der Hilfe zu öffnen, weil sie glauben, ihre Familie schützen zu müssen. "Aber auch wenn die Frau die Aussage verweigert, müssen wir auf die Kinder schauen. Die Bezirkssozialarbeiter sind auch dann nicht der Verantwortung enthoben und müssen versuchen, an die Kinder ranzukommen." Denn gerade kleine Kinder hätten einen "Höllenangst vor Gewalt, aber auch vor dem Verlust von Sicherheit".

Die Jugendamtschefin denkt deshalb längerfristig daran, einen speziellen Krisendienst zu bilden, der möglichst schnell nach dem Polizeieinsatz tätig werden und die Gefährdung des Kindes einschätzen kann. "Gerade für die vielen kleinen Kinder brauchen wir Gruppenangebote, um sie aus der Isolation herauszuholen, in der die Familien häufig leben", sagt Kurz-Adam. "Es ist nicht das Ziel des Jugendamts, die Kinder rauszunehmen, sondern sie in soziale Netze zu integrieren."

Die Polizei bietet Telefon- und Mailkontakt an

Manchmal sind es die blauen Flecken im Gesicht der Frau, die einer Nachbarin auffallen. Ein anderes Mal sind es die Schreie aus der Nebenwohnung, die nicht mehr zu überhören sind. "Die Situationen, wenn Polizeibeamte wegen häuslicher Gewalt gerufen werden, sind sehr unterschiedlich", erklärt Polizeisprecher Gottfried Schlicht. Oft alarmieren Nachbarn oder halbwüchsige Kinder die Polizei, manchmal aber auch die betroffenen Frauen selbst.

Fast immer sind es Männer, die schlagen - und fast immer sind Frauen die Opfer. "Es muss aber nicht immer der Ehemann sein", so Schlicht, "es kann auch passieren, dass es ein Onkel ist oder ein älterer Bruder, der zeigen muss, dass er der Herr im Haus ist."

In akuten Situationen müssen die Beamten mit allem Möglichem rechnen. "Manchmal müssen sie sich auch mit Nachdruck Zugang zur Wohnung verschaffen", so Schlicht. Angesichts der Staatsgewalt in den eigenen vier Wänden reagieren die Täter unterschiedlich: "Manche akzeptieren, dass da jetzt eine andere Macht ist, und beherrschen sich", so Schlicht, "andere wollen sich von niemandem etwas sagen lassen und begehren erst recht auf. Die gehen dann auch auf die Beamten los." Oft würden die Einsätze zusätzlich erschwert, weil die Täter betrunken seien oder vor einem völlig anderen kulturellen Hintergrund handeln würden.

"Am liebsten wäre es uns natürlich, wenn es gar nicht zu diesen Einsätzen kommen müsste", sagt Gottfried Schlicht. Er weist deshalb auf die Beratungsangebote der Polizei hin: Das Kommissariat 105 für Verhaltensprävention und Opferschutz bietet nicht nur Kurse, sondern auch Beratung an - persönlich, telefonisch unter 2910-4444 oder per Mail unter ppmuc@polizei.bayern.de. Dort könne man sich Rat und Hilfe holen, "auch schon bevor etwas passiert".

© SZ vom 14.04.2009/brei - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: