Interview:"München verweigerte den Blick zurück"

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Die Ausstellung "Ort und Erinnerung" über die Nazi-Vergangenheit der Stadt erfährt einen enormen Besucheransturm. Kurator Winfried Nerdinger über die Schwierigkeit, die braune Vergangenheit adäquat zu bewältigen.

Alfred Dürr, Bernd Kastner

Zu Tausenden strömen die Menschen in die Ausstellung "Ort und Erinnerung" in der Pinakothek der Moderne. Dort wird umfangreich die Verwicklung Münchens mit dem Nationalsozialismus dokumentiert. Die SZ sprach mit dem Ausstellungsmacher Winfried Nerdinger über die lange Zeit verdrängte NS-Geschichte.

Die Feldherrenhalle war mit dem Denkmal für beim Hitler-Putsch getötete Nationalsozialisten zentraler NS-Kult-Ort. (Foto: Foto: Stadtarchiv)

SZ: Wie erklären Sie sich den großen Erfolg Ihrer Ausstellung?

Nerdinger: Es hat sich offenbar ein Informationsbedürfnis aufgestaut. Es gab ein Vakuum, weil in München recht wenig öffentliche Informationen über die Stadt in der NS-Zeit zu finden sind.

SZ: Sie haben der Ausstellung ein Zitat Herders vorangestellt: "Wenn die Menschen schweigen, so werden die Steine schreien."

Nerdinger: Ich sehe meine Aufgabe als Architekturhistoriker darin, Steine zum Sprechen zu bringen. Sie sprechen aber erst dann, wenn man Informationen dazu vermittelt, wenn man mit einem Bau etwas verknüpfen kann. SZ: Welcher der "schreienden Steine" hat Sie selbst überrascht?

Nerdinger: Ein für mich besonders bewegendes Kapitel ist das, was wir "Verwaltung und Verbrechen" nennen. Die Verwaltungsebene des NS-Systems hat bis zuletzt fast perfekt funktioniert, gerade die Finanzverwaltung. Juden wurden per Verordnung ausgeplündert. Das geschah in der Oberfinanzdirektion an der Sophienstraße und im Reichsfinanzhof an der Ismaninger Straße, den beiden Zentren der Finanzabwicklung. Scheinbar harmlose Orte, man verknüpft sie nicht mit solch einem Verbrechen. Das gilt beispielsweise auch für das Leihamt in der Augustenstraße 20, wo Juden ihr Edelmetall abgeben mussten.

SZ: Sollte man all dieser Orte mit einer Tafel gedenken?

Nerdinger: Man kann nicht überall Tafeln aufstellen, das wäre kontraproduktiv. An einigen zentralen Orten halte ich sie aber für wichtig. Nur nicht so verschämt wie bisher, etwa am ehemaligen Wittelsbacher Palais an der Brienner Straße. Am Neubau der Landesbank ist irgendwo eine Tafel angebracht, und ganz unten steht, dass dort auch die Gestapo-Zentrale war - der meistgefürchtete Ort Münchens. Das ist nicht adäquat.

SZ: Es hat mehr als 60 Jahre gedauert, bis man sich zum Bau eines Dokumentationszentrums entschlossen hat.

Nerdinger: München hat eine noch engere Verknüpfung mit dem System als alle anderen Städte. Hier ist die "Bewegung" entstanden - hier wurde noch mehr verdrängt. Nach 1945 hat München bewusst versucht, sich ein anderes Image zu geben. "Weltstadt mit Herz". "Heimliche Hauptstadt". Klischees, die bewusst von der Politik geprägt wurden...

SZ: ...von allen Parteien?

Nerdinger: Ja, da unterscheiden sie sich überhaupt nicht. Man wollte ein ganz anderes München präsentieren, die braunen Flecken haben gestört. Im Aufschwung nach dem Krieg wollte man nicht mehr zurück blicken.

SZ: Auch Jahrzehnte später nicht.

Nerdinger: Ja. Das ist beschämend. Man kann es nicht anders nennen.

SZ: Wie sind andere Städte mit ihrer braunen Vergangenheit umgegangen?

Nerdinger: Auch Berlin und Nürnberg haben sich nicht mit Ruhm bekleckert, aber die Auseinandersetzung hat dort viel früher begonnen und war viel intensiver. Dieses Verdrängen und bewusste Blockieren in dem Maße wie in München gab es dort nicht.

SZ: Auch der sonst so beredte Oberbürgermeister wirkt ungewohnt leise.

Nerdinger: Das gilt für alle Oberbürgermeister. Und ja, auch bei Herrn Ude hat man nicht den Eindruck, dass das Zentrum eine Herzensangelegenheit ist. Wenn er sich stärker eingesetzt hätte, hätte sich früher etwas bewegt.

SZ: Der Erfolg Ihrer Ausstellung müsste viele Politiker doch beschämen.

Nerdinger: Wenn dem so wäre, fände ich es gut.

SZ: Gibt es auf die Ausstellung Reaktionen seitens der Politiker?

Nerdinger: Nein.

SZ: Macht Sie das wütend?

Nerdinger: Nicht wütend, aber ... Ich setze mich seit fast 20 Jahren für das Zentrum ein, und mich freut es, dass die Ausstellung so gut angenommen wird, auch in dieser sehr nüchternen Form. Wir muten dem Besucher einiges zu, und das in einer Zeit, da alle sagen: Nichts geht ohne Event. Die Ausstellung ist ein wichtiger Schritt zum Dokumentations-Zentrum, man kann nicht mehr umkehren. Jetzt können wir sagen: Die Ausstellung hat gezeigt, welch großen Bedarf es gibt, sich über die NS-Geschichte der Stadt zu informieren. Genau das wurde ja auch immer wieder in Frage gestellt.

SZ: Welche Rolle spielt für Sie Ihre Familiengeschichte? Ihr Vater gehörte der Widerstandsgruppe der "Revolutionären Sozialisten" an.

Die Feldherrenhalle heute. (Foto: Foto: C. Hess)

Nerdinger: Das ist sicher der entscheidende Faktor, warum ich mich so engagiere. Wenn ich an Orte wie den Justizpalast komme oder nach Stadelheim, ist das für mich schon sehr bewegend. Zehn Mitglieder dieser Gruppe wurden dort zum Tode verurteilt und hingerichtet.

SZ: An einigen Orten entdeckt man noch Symbole der NS-Herrschaft. Sollten die dauerhaft bleiben?

Nerdinger: Auf jeden Fall. Sie sollten aber genutzt werden, um ein Bewusstsein zu wecken, zum Beispiel am heutigen Wirtschaftsministerium, dem damaligen Luftgaukommando.

SZ: Weder dort gibt es einen Hinweis noch an der Feldherrnhalle ...

Nerdinger: ... obwohl dies ein zentraler Ort der Nationalsozialisten war. Man könnte sich auch einen Hinweis am Polizeipräsidium in der Ettstraße vorstellen. Das wurde damals auch als Mörderzentrum bezeichnet. Eine demokratische Gesellschaft müsste deutlich zeigen: Hier ist Unrecht geschehen, aber wir distanzieren uns.

SZ: Würden Sie sich in der Ettstraße eine Gedenktafel wünschen?

Nerdinger: Die Diskussion verengt sich immer auf die Tafel-Frage. Als ob es nichts anderes gäbe ...

SZ: ... nämlich?

Nerdinger: Man müsste neue Wege suchen, wie man mit solchen Orten umgeht. In Wien auf dem Albertinaplatz liegt eine Figur, ein Jude, der den Boden schrubbt. Weil sich die Touristen drauf gesetzt haben, musste man ihn mit Stacheldraht schützen. Das ist natürlich sehr problematisch, aber es sind immerhin Versuche. In München wäre beispielsweise denkbar, in der Feldherrnhalle eine große Installation anzubringen, um auf die historische Rolle des Orts zu verweisen und ihn gleichzeitig demokratisch zu besetzen.

SZ: Wie sollte das Dokumentations-Zentrum gestaltet werden?

Nerdinger: Es sollten Strukturen und Personen erläutert sowie Zusammenhänge sichtbar gemacht werden, um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte. Dann kann man mit einem Stadtplan in der Hand hinaus gehen und sich diese Plätze anschauen. Wo war die Synagoge? Wo hat Elser an seiner Bombe gebaut? Das Zentrum sollte kein Museum des Nationalsozialismus werden, wo man mit SS-Uniformen und Ehrendolchen empfangen wird. Aber über dieses Konzept wird noch diskutiert.

SZ: Sollten, wenn das Zentrum steht, andere Gedenkorte wegfallen, der Platz der Opfer des Nationalsozialismus etwa?

Nerdinger: Auf keinen Fall. Dieser Platz, eine Verkehrsinsel, ist das Dokument einer beschämenden Form von Erinnerungskultur, deshalb muss er bleiben. Er ist genauso sprechend wie die Sockel der Ehrentempel, über die das Gras wächst. Ein Zeichen für 60 Jahre Umgang mit unserer Vergangenheit.

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