Intendant der Kammerspiele:Doppelherzschlagfinale

Lesezeit: 5 min

Zwei fulminante Premieren sorgen dafür, dass der Abschied von Frank Baumbauer, der als Intendant der Kammerspiele aufhört, richtig weh tut.

Christopher Schmidt

"Kunst" ist das erste Wort des letzten Premierenwochenendes unter Frank Baumbauer. Doch Baumbauer hätte die Jahre seiner Intendanz nicht entscheidend geprägt, schwebte dieses Wort zuletzt als bloße Behauptung im Raum. Und so erhebt Brigitte Hobmeier nach einer Pause erneut die Stimme: "Kunst di ned anständig verabschiedn? Servas!" Dass diejenigen, die an der Maximilianstraße acht Jahre lang Theater gespielt haben, sich nicht anständig verabschieden, kann man ihnen wirklich nicht nachsagen. Zwei fulminante Premieren sorgten dafür, dass der Abschied richtig weh tut. Und da geht es schon in Ordnung, dass das Haus für sein Endspiel auch thematisch nah am Wasser gebaut hat.

(Foto: Foto: ddp)

Mit zwei Stücken, die vom vergeblichen Kampf gesellschaftlicher Verlierer um ihre Selbstbehauptung handeln zielen die Kammerspiele direkt aufs Herz ihres Publikums. Dessen Intellekt hatten sie ja oft genug im Visier. Jetzt aber darf der Münchner Zuschauer seinen schweren Kopf in den Schoß der reinen Empathie betten und die Gefühle frei fließen lassen. Ein doppeltes Herzschlag-Finale sozusagen.

Zugleich schließt sich ein Kreis: Mit Herbert Achternbuschs "Daphne von Andechs" begann im Herbst 2001 die Ägide Baumbauer, und Thomas Ostermeier, der nun Achternbuschs "Susn" dem Vergessen entrissen hat, gehörte von Anfang zu den festen Größen der Regie, genauso wie Luk Perceval, der mit Jon Fosses "Traum im Herbst" der neuen Epoche zu ihrem ersten Triumph verholfen hat und jetzt mit einer eigenen Adaption von Hans Fallada Arbeitslosen-Roman "Kleiner Mann - was nun?" leise, aber sehr bewegend Servus sagt. Beide Regisseure zeigen noch einmal große Könnerschaft, virtuose Wirkungsmechanik. Für Ostermeiers eher inhaltlich orientierte Erzählweise ist das weniger ungewöhnlich als für Perceval. Diesmal aber hat er sich bewundernswert zurückgenommen, stellt seine Mittel ganz in den Dienst der Geschichte.

Während die Fallada-Inszenierung für Perceval ein Schritt in eine neue Richtung darstellt, gibt es für Thomas Ostermeier zwei Anknüpfungspunkte, die seiner "Susn" Kontinuität verleihen. Zum einen setzt Ostermeier mit dem Stück seine mit Fassbinders "Die Ehe der Maria Braun" so vielversprechend begonnene Zusammenarbeit mit Brigitte Hobmeier fort, die mit ihrer zugleich naturkindhaften und ätherischen Aura die Idealbesetzung ist für die rothaarige Susn, eine Madonna mit Bodenhaftung.

"Ein Instrument, auf dem ewig falsch gespielt worden ist"

Zum anderen hat Ostermeier mit Kroetz' "Wunschkonzert" schon einmal ein tragisches Frauenschicksal eines Textes aus den siebziger Jahren als großes Solo inszeniert. Beide Stücke werden oft miteinander verglichen, auch weil sich ihre Protagonistinnen am Schluss das Leben nehmen. Damals wie heute hat Ostermeier den Selbstmord gestrichen, um die weiblichen Figuren, die von den Autoren allzu chauvinistisch auf dem Altar der Gesellschaftskritik geopfert werden, zu ermächtigen. Verzichtet wird überdies auf den letzten Teil, ein Traumspiel der alten Susn.

So erleben wir sie im Abstand von je zehn Jahren in vier Altersstufen zwischen 17 und 47, eine Rebellin, die an der Männerwelt zuschanden geht. Als junges Mädchen will Susn aus der Kirche austreten, weil sie die Bigotterie nicht mehr ertragen kann. Ausgerechnet dem geilen Pfarrer beichtet sie Sünden, die vor allem die der anderen sind. Anfangs flüsternd spricht Brigitte Hobmeier den Text, mit offenem Haar kniet sie vor einem Schminkspiegel, der an einen Flügelaltar erinnert und dessen Bild zugleich auf einer Videowand erscheint, dazwischen lange Kamerafahrten durchs verschneite Niederbayern.

Auf den Punkt unterstützt von ihrem stummen Mitspieler Bernd Moss, zeigt Brigitte Hobmeier in dieser Paraderolle ihre Wandlungsfähigkeit. Aus dem rotzigen Mädchen des Anfangs wird eine depressive Studentin, die in der Großstadt, die Entfremdung durchlebt, um an der Seite eines liebelosen Mannes zu vertrocknen, "ein Instrument, auf dem ewig falsch gespielt worden ist". Die Hände unter die Achseln geklemmt, prallt ihre Sehnsucht ab an diesem Herbert, einem Alter ego Achternbuschs, den sie am Schluss durch den Raum führt wie eine willenlose Marionette, um doch nur mit Bier übergossen zu werden. Ostermeier, der in der Nähe von Landshut aufwuchs, und Hobmeier, die als Kind ihre Ferien bei den Großeltern in Niederbayern verbrachte, bringen die nötige Lokalkompetenz mit für diesen tragikomischen Heimatabend. Gelungen ist ihnen eine ebenso zarte wie eindringliche Beschwörung des sanften Grusels mit Zitherspiel und Leberkäs aus der Aluschale.

Mit ihrer unsentimentalen Frische wäre Brigitte Hobmeier auch die Idealbesetzung gewesen für Lämmchen Mörschel, das Stehauf-Frauchen aus Hans Falladas Roman "Kleiner Mann - was nun?". Bei Annette Paulmann dagegen wirkt der naive Aplomb zunächst so aufgesetzt, als spielte sie in einem Kinderstück, bis sie sich die "moralisch-rosa Hautfarbe" zueigen gemacht hat, über die Siegfried Kracauer in seinem Angestellten-Buch schrieb, sie solle eine keineswegs rosige Wirklichkeit mit einem Firnis überziehen. 1929 beschrieb Kracauer in einer Serie von Zeitungs-Reportagen die Proletarisierung der Angestellten. Eine verschollene Bürgerlichkeit, die in ihnen nachspuke, mache sie geistig obdachlos und verhindere ihre Politisierung. Hans Fallada hatte diese Reportagen gelesen und Kracauers Befunde literarisiert. Zu dessen analytischer Wut schuf er das herzerwärmende Beispiel in Gestalt von Johannes und Lämmchen, deren Liebe sie isoliert und deren Tugendhaftigkeit ihr einziger Luxus ist.

Es ist gut, dass Luk Perceval sie als unbedingte Sympathieträger zeigt, so schwer es Paul Herwig und Annette Paulmann anfangs auch fällt, diese Kinderunschuld zu beglaubigen, indem sie sich dauernd herzen und küssen. Da sitzt erst mal nicht das Herz am rechten Fleck, sondern nur ein großer Knutschfleck auf dem Stück. Fahrig und nervös ist Paul Herwig, als Johannes das Kraftzentrum des Abends, am Anfang, und es klappern die szenischen Anschlüsse, weil Perceval zu vorsichtig am Buch entlanginszeniert.

Halb erzählend, halb spielend beginnt das große Panorama recht hölzern, als rampennaher epischer Frontalunterricht auf der leeren Bühne. In deren Mitte steht allein ein riesiges altmodisches Orchestrion als Hausaltar, dessen Musik den Abend untermalt. Im Hintergrund flimmern Ausschnitte aus dem Film "Berlin die Sinfonie einer Großstadt" über eine Videowand.

Unwiderstehlicher Sog

Doch erst nach der Pause findet die über vierstündige Aufführung zu ihrem Rhythmus, wagt Perceval größere Sprünge in der Handlung und verdichtet die Szenen. Wie ausgewechselt wirken auch die Schauspieler, Paul Herwig beginnt gleich mit einer Parforce-Nummer, die zeigt, wie sein Johannes, der schon einmal arbeitslos war, nun als gehetzter Verkäufer seine Quote erfüllen muss, um nicht gefeuert zu werden. Von da an entfaltet die Inszenierung einen unwiderstehlichen Sog, weil Perceval zeigt, dass es nicht der eine Schicksalsschlag ist, der den kleinen Mann vernichtet, sondern die tausend kleinen Schläge und Stiche.

Atemberaubend ist der lange Schluss, da Herwig zu großer, erschütternder Leidensform aufläuft, wenn er von einem Schupo davongejagt auch noch seine Würde verliert. Er rennt nach Hause und sieht noch einmal seinen ganzen Leidensweg wie im Zeitraffer. Dort angekommen, traut er sich nicht in die Laube, in der die kleine Familie haust, weil er sich schämt. Schritt vor Schritt setzend, kommt Herwig, die Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen, damit Lämmchen seine Tränen nicht sieht, nach vorne. Er schämt sich, weil er sich als Versager fühlt. Und wie sein Lämmchen ihn findet und auffängt in ihren Armen, ist das ein herzergreifender Theatermoment.

Perceval macht nicht das Roaring-Twenties-Fass auf wie einst Peter Zadek in seiner großen Fallada-Sause; er zeigt die Härten ungemildert, aber auch mit komischen Tupfern. In den vielen skizzenhaften Neben- und Episodenfiguren spielen die Ensemblegrößen ihren Aberwitz aus: Gundi Ellert und Wolfgang Pregler, André Jung und Hans Kremer, Stefan Merki und Peter Brombacher. Sie machen das mit so hinreißender Leichtigkeit und mit so viel Gefühl, dass man nicht von ihnen lassen möchte. Zum Glück gibt es keinen Vorhang an diesem Abend, man könnte kaum ertragen, wenn er sich schlösse und die Frage offen ließe: Kammerspiele - was nun?

© SZ vom 27.04.2009/pfau - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: