In-Viertel:Das Dorf in der Stadt

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Gründerzeithäuser, Bierschwemmen, Schlachthof, billige Mieten: Einst galten die Vorstädte südlich der City als Glasscherbenviertel. Das hat sich gründlich gewandelt. Sogar japanische Touristen verirren sich hierher - in eine bunte, weltoffene, oft schrille Gegend, die sich stets neu erfindet und in der trotz allen Wandels die Mischung stimmt. Die Frage ist nur, wie lange noch.

Bernd Kastner

In einem Viertel voller bunter Vögel ist Fritz Kraus vielleicht der bunteste. Was man dem Mann mit dem dichten, weißen Haar weiß Gott nicht ansieht, wenn er so in seiner Küche sitzt zwischen Tisch und Schränken in schwerer Eiche. Aus dem Herrgottswinkel schaut der Heiland herab, und Fritz Kraus ruft: "Mein Gott! Das gehört zu unserem Viertel! Das war schon immer so."

Neugestalteter Gärtnerplatz: Die Straßenzüge im Viertel ändern ihr Gesicht. (Foto: Foto: SZ 7 Rumpf)

Kraus, Jahrgang 1942, Konservativer wie aus dem Bilderbuch, CSU-Mitglied, spricht vom schwulen Leben in seinem Stadtteil. Das ist eine Gegend, wo man häufiger Fahnen sieht mit Regenbogen, dem Symbol der Homosexuellen, drauf als mit weiß-blauen Rauten. Ausgerechnet Kraus hat mit seiner CSU einem schwulen Politiker, einem von der Rosa Liste, ins Amt des Stadtteil-Bürgermeisters verholfen.

Schwarz-Rosarot mit Grün

Seither gibt es in der Isarvorstadt eine Koalition der besonderen Art, Schwarz-Rosarot mit Grün. Nun wohnt Kraus nicht direkt unterm Regenbogen, nicht im Glockenbachviertel, sondern ein paar Straßen weiter beim Schlachthof. Unterm Fenster rumpeln die Lastwagen zum Viehhof. Dieses unscheinbare Quartier ist eine Insel der niedrigen Mieten, zumindest für Münchner Verhältnisse.

Das geht zurück auf die Jahre um 1870, als sie den Schlachthof dort angesiedelt haben. Viele Arbeiter sind hergezogen, es hat gestunken, und so stand das Viertel immer eher unten. Die Familie Kraus betrieb eine Bäckerei, es gab viele kleine Läden, bis in den 60ern die Gastarbeiter kamen und das Viertel nochmals veränderten. Die Türken sind ins Bahnhofsviertel gegangen zum Einkaufen, wo ihre Märkte waren, und so sind die Läden am Schlachthof eingegangen.

Heute, da es eher dezent riecht, je nach Wind, ändert sich das Viertel wieder. Heute rücken die Gerüstbauer an, hüllen graue Fassaden ein und packen irgendwann saubere Häuser aus. Die bestehen dann aus Eigentumswohnungen und beherbergen neue Menschen. Bis vor kurzem stand neben Kraus' Haus ein Block mit Gemeinschaftsklo im Treppenhaus. Den haben sie entkernt.

(Foto: Foto: SZ)

Jedes Gerüst treibt die Mieten hoch, und Kraus stellt schulterzuckend fest: "Die Leute, die sich das nicht mehr leisten können, werden vertrieben." In der Adlzreiterstraße, zwischen einem Stüberl am Anfang und einer Messerschleiferei am Ende, haben schon die ersten Läden aufgemacht, an denen Grafik oder Design oder Architektur steht.

Es sind Vorboten dessen, was Fachleute Aufwertung nennen. "Eine Aufwertung, das wäre schon toll", sagt Fritz Kraus und denkt dabei vor allem an das Flair der vielen Lädchen, wie sie im Glockenbachviertel seit Jahren wieder gedeihen. Die Götterspeise, eine Chocolaterie, ist so etwas wie der inoffizielle Mittelpunkt des Glockenbachviertels.

Die Götterspeise ist dafür typisch: Was sie bietet, schmeckt süß und locker und ist teuer. Diese Ecke Münchens hat sich im vergangenen Jahrzehnt einen Ruf erworben, der ans legendäre Schwabing erinnert. Kneipen-Viertel, Schwulen-Zentrum, buntes Biotop, so nennen sie die Gegend zwischen Isar und Altem Südfriedhof, wo die Großen der Stadt begraben liegen.

In der Chocolaterie treffen sich die Kreativen und die Etablierten, die Yuppies und die Senioren aus dem "Tertianum", der Residenz fürs gute Leben im Alter. Vorm Schaufenster parken Mütter ihre Kinderwägen, drinnen schenkt Sarah Bröker, 34, Tee oder Kaffee aus und, natürlich, Schokolade.

Nirgends in München leben die Straßen so wie hier, und das nicht nur beim schwulen Straßenfest, zu dem Zehntausende in die Hans-Sachs-Straße mit ihren prächtigen Gründerzeitfassaden strömen. Es sind die Kleinigkeiten am Rande, die ein Quartier beleben.

Heino-Platte und Sechzger-Fahne

Die Tische der winzigen Cafés auf dem Fußweg, der 15-Euro-Friseur neben der Kfz-Werkstatt neben der Heilsarmee neben der Boutique, in der man alles findet, was man nicht unbedingt braucht. Im Knopflochladen kriegt man Haken und Ösen und Hemdenkragenerneuerung, im "Mädel" alles Gute aus den siebziger Jahren, vom Scheibenwahltelefon in Orange bis zum Schneewalzer auf einer Heino-Platte. Es gibt das Bierstüberl mit der blau-weißen 1860er-Fahne draußen und den Ochsengarten mit seinen schwarz verklebten Fenstern und dem Hinweis: "Men only".

Seit aber selbst die jährlichen Hinterhof-Flohmärkte kein Geheimtipp mehr sind, sagt Claudia Pöppel: "Es hat sich ein Tourismus entwickelt, der das Ganze schon wieder ungemütlich macht." Noch ist das Viertel quirlig und bunt, aber an einem Gerüst neben Frau Pöppels Wohnung hängt ein gewaltiges Transparent.

Die Werbung für sanierte Eigentumswohnungen klingt wie eine Drohung: "Für Kapitalanleger, die Trends erkennen." Selten bricht die Nobilisierung so brutal herein wie in einem Haus in der Geyerstraße. Es war zuerst wie immer: Wohnung für Wohnung wird verkauft - und saniert. Gedröhnt und gestaubt hat es, die Bewohner haben geschimpft, aber das ist Alltag in München.

Bis es passiert ist: Ein Kamin wird aufgeschlitzt, Abgase aus einem Ofen können nicht mehr abziehen, eine Frau, 46 Jahre alt, steigt in ihre Badewanne, wird ohnmächtig und ertrinkt. Tod durch Entmietung? Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch immer. Der Mann der Toten, der seine Frau in der Wanne gefunden hat, lebt noch in dieser Wohnung. Obwohl er in ihr leidet, klammert er sich an sein vergangenes Leben.

Der Artikel ist entnommen aus dem Heft: München, erschienen im Süddeutschen Verlag.

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