In der Traglufthalle:Ein Angriff, drei Aussagen

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Abdulkadir U. soll Lawrence E. mit einem Messer attackiert haben - doch vor Gericht erzählen alle Beteiligten etwas anderes

Von Susi Wimmer

Es ist Märchenstunde in Saal B 162 des Landgerichts. Nur: Wer den Märchenonkel gibt, das ist nicht so ganz klar. Auf der einen Seite steht Abdulkadir U., Alter ungewiss, auf der anderen der 23-jährige Lawrence E. Der eine soll den anderen in der Asylbewerberunterkunft in Oberhaching mit einem Messer in Richtung Hals attackiert haben, was die Staatsanwaltschaft als versuchtes Tötungsdelikt wertet. Abdulkadir U. sitzt deshalb seit neun Monaten in Untersuchungshaft. Täter und Opfer allerdings schildern vor Gericht einen ziemlich unterschiedlichen Hergang der Tat, und am Ende ist nicht einmal klar, ob tatsächlich ein Messer im Spiel war. Abdulkadir U. behauptet, die Kratzer an Hals und Händen des Opfers stammen nicht von einem Messer. Es sei eine Rangelei gewesen, "und ich hab' lange Fingernägel".

Die beiden jungen Männer kennen sich bereits seit mehr als einem Jahr. Die Asylbewerber waren zunächst in Haar in einer Unterkunft untergebracht, später in der Traglufthalle in Oberhaching. Der eine stammt aus Somalia, der andere aus Nigeria. Und so ganz grün sind sie sich offenbar nicht. "Somalis sind anders als Senegalesen oder Nigerianer", sagt beispielsweise Abudlkadir U. Und Lawrence E. lässt beiläufig fallen, dass er ja viel stärker sei als der andere. Ohne jeden Kontext kommt dann noch die Aussage: "Ich bin Christ, er ist Muslim. Aber ich hab nichts gegen ihn."

Tatsächlich ist Abdulkadir U. ein eher schmächtiger junger Mann. Er trägt eine auffällige schwarz-rote Brille, ein weißes Hemd und erzählt, dass er an jenem Julitag 2016 sein Praktikum bei einer Chiphersteller-Firma beendet und auf Übernahme in eine Festanstellung gehofft hatte. Der Somali spricht relativ gut Deutsch, bei der Schilderung der Tat greift er auf seine Muttersprache zurück. Mittags, bei der Essensausgabe, habe er gehört, wie Lawrence E. die Frauen vom Catering angemotzt habe mit den Worten: "Ihr seid schlechte Frauen und euer Essen stinkt." Da habe er ihm gesagt, er solle mehr Respekt zeigen. "Ich wollte ihn beruhigen." Stattdessen habe der andere geantwortet, das gehe ihn gar nichts an. Und: "I will kill you." Dann habe Lawrence E. ihm seinen Teller auf den Schoß gekippt. Er sei aufgesprungen, aber seine Landsleute hätten ihn beruhigt. Da sei Lawrence E. erneut auf ihn zugerannt, habe ihn mit der Faust an die Schulter geschlagen, "da bin ich total sauer geworden". Es habe eine Schlägerei gegeben, "aber ich hatte keine Waffe". Der andere habe mit einem Stuhl nach ihm geworfen und wollte einen Wasserbecher über ihn ausgießen. Der Sicherheitsdienst habe eingegriffen, dann sei die Polizei gekommen. "Dort am Marienplatz sagte man mir, ich hätte ihn töten wollen", erzählt er. Mit solchen Vorwürfen habe er nicht gerechnet.

Tatsächlich schildert die Staatsanwaltschaft den Vorfall ganz anders. Die Drohung "Ich stech Dich ab" sei von Abdulkadir U. gekommen. Und er sei mit dem Messer, mit dem er zuvor sein Brot geschmiert hatte, auf den anderen losgegangen. Als Lawrence E., Rastalocken, gelbe Jeans, den Angriff wiedergibt, klingt es wieder anders. Er demonstriert, wie er den für ihn lebensgefährlichen Messerangriff abgewehrt habe: Er habe mit beiden Händen die Faust des Angreifers gepackt und sei in die Knie gegangen. Als die Staatsanwältin den Hergang hinterfragt, sagt das Opfer: "Ich weiß nicht genau, wie es war, es war die Gnade Gottes." Worauf die Staatsanwältin entgegnet, dass man sich hier ein Bild vom Tathergang machen wolle, "da hilft uns Gott nicht weiter".

Richter Norbert Riedmann verliest noch die Aussage eines Sanitäters über die Wunde bei Lawrence E.: "Es war nur eine kleine Verletzung am Hals." Bei der rechtsmedizinischen Begutachtung zwei Wochen nach der Tat sind jedoch zwei Schnitte dokumentiert. Woher die zweite Wunde stammt, blieb am Dienstag ungeklärt. Riedmann deutete zudem an, dass vom Wachpersonal in der Traglufthalle niemand ein Messer gesehen habe. Das Urteil soll am 12. April gefällt werden.

© SZ vom 05.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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