Historiker:Zuwanderung ist immer eine Bereicherung

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Philip Zölls erforscht Migrationsakten. (Foto: Robert Haas)

Philip Zölls arbeitet an dem Projekt "Migration bewegt die Stadt". Bei der Sichtung der vielen Akten eröffnen sich ihm immer wieder neue Welten

Interview von Thomas Anlauf, München

Seit einem Jahr erforschen Experten des Stadtarchivs und des Stadtmuseums, wie Migration die Stadtgeschichte und -gesellschaft beeinflusst hat und auch heute prägt. Dazu werden unter anderem die Bestände der beiden städtischen Institutionen durchforstet und ausgebaut. Das Projektthema "Migration bewegt die Stadt" soll künftig im Stadtarchiv und im Stadtmuseum einen festen Raum einnehmen, etwa in der Dauerausstellung "Typisch München!". Der Historiker Philip Zölls arbeitet auf Seite des Stadtarchivs seit vergangenem Februar an dem Projekt.

SZ: München ist ein Schmelztiegel der Kulturen, jeder vierte Münchner hat einen ausländischen Pass, von denen mit deutschem Pass hat jeder vierte einen Migrationshintergrund. Wie sehr bewegt das die Stadt?

Philip Zölls: Nun, Stadt ist Migration, wie der Migrationsforscher Erol Yildiz sagt, sie hat schon immer die Stadt bewegt: ob in der Renaissance mit ihrer Architektur oder auch später in Form der Gastarbeiter, also der Arbeitsmigranten nach Ende des Krieges. Dass jetzt mehr Leute nach München kommen, bedeutet sicherlich eine neue Dimension, aber man darf das nicht als Kosten-Nutzen-Faktor sehen. Zuwanderung ist - das zeigt auch die Erfahrung der Geschichte - aber auf jeden Fall eine Bereicherung für die Stadt.

Als im September Tausende Flüchtlinge in München ankamen, wurden sie wie selbstverständlich von vielen Münchnern begrüßt. Sind denn die Münchner besonders aufgeschlossen gegenüber Menschen aus anderen Kulturen?

Eine schwierige Frage, das war schon eine Art Ausnahmesituation. Aus der Geschichte heraus kann man das aber sicherlich nicht sagen. In München gab und gibt es Ausgrenzungsmechanismen und spezifische Formen des Alltagsrassismus, etwa wenn in den Sechzigerjahren von der Balkanisierung des Hauptbahnhofs gesprochen wurde. Aber die Geschichte ist eben vielseitig. Besonders in den Siebzigerjahren unter Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel gab es große Integrationsbemühungen.

Der Münchner Hauptbahnhof wurde ja bereits in den frühen Sechzigerjahren zum Symbol für Migration, als Hunderttausende Italiener und später Türken an Gleis elf ankamen, um in Deutschland zu arbeiten. Wie hat das München damals verändert?

Das war schon ein großer Schub. Das war auch eine große Bereicherung, man denke nur an die Gastronomie oder die Musik. Und ohne die Migration und die vielen Arbeiter wäre zum Beispiel Olympia 1972, in der Form, wie wir es kennen, in München gar nicht möglich gewesen.

Viele sind gekommen und geblieben. Im Westend leben traditionell viele Münchner mit griechischen Wurzeln, im südlichen Bahnhofsviertel mit türkischer oder arabischer Herkunft. Erschwert das nicht die Integration, wenn Menschen gleicher Herkunft unter sich bleiben?

Das glaube ich gar nicht. Was heißt denn Integration? Wenn die Menschen am Stadtleben teilnehmen. Und dass das funktioniert, sieht man doch zum Beispiel am Westend. Seit den Sechzigerjahren gibt es das flimmernde Wort der Ghettobildung. Dabei hat eine Studie der TU eine Ghettobildung in München verneint. Die Menschen sind ja oft dort hingezogen, wo die Wohnungen noch günstig waren, etwa im Westend, man war ja regelrecht gezwungen, in solche Viertel zu ziehen. Und dort gab es ja auch große Industriebetriebe.

Für das Projekt "Migration bewegt die Stadt" wurde auch mit vielen Münchner Migranten gesprochen. Empfinden diese denn die Stadt als Heimat?

Das kann ich nicht stellvertretend für sie beantworten. Heimat ist doch da, wo man sich wohlfühlt. Seit den Sechzigerjahren kamen natürlich ganz viele wegen der Arbeit . . .

. . . zum Beispiel auch aus der Türkei. In den vergangenen Jahren hat die Zahl der türkischstämmigen Münchner abgenommen. Offenbar gehen viele wieder zurück in die Türkei.

Das kann durchaus sein. Es sind vermutlich Personen, die in den Sechzigern nach München gekommen sind und nun ihren Lebensabend in der alten Heimat verbringen wollen.

Wie kommen Sie eigentlich an die nötigen Informationen für das Projekt - außer über Gespräche mit Migranten?

Mein Arbeitsgebiet ist es, alle Akten, die ich finde, in einem Spezialinventar aufzuführen. Das sind Unmengen an Akten, es sind immer wieder neue Welten, die sich da öffnen. Doch in den Verwaltungsakten wird Migration häufig nur als Problem thematisiert. Darum bin ich bemüht, weitere Akten von migrantischen Organisationen und Vereinen ins Stadtarchiv zu holen. So bin ich zum Beispiel im Gespräch mit dem Griechischen Haus und der Arbeiterwohlfahrt, was die Übernahme der Unterlagen angeht. Vom Bayerischen Flüchtlingsrat habe ich dessen Bestand erhalten.

Die Geschichte der Migration in München wird ja nun archiviert, aber auch musealisiert in Form von Ausstellungen, auch um Migration als selbstverständlichen Bestandteil der Stadt darzustellen. Wird sie dadurch nicht sogar als etwas Besonderes oder Exotisches dargestellt?

Auf den ersten Blick mag das in gewisser Weise ein Widerspruch sein. Aber es soll ja kein Museum werden, sondern zum Beispiel innerhalb der Ausstellung "Typisch München!" im Stadtmuseum einen festen Platz finden. Und für viele Menschen ist das Thema Migration eben noch nicht selbstverständlich.

© SZ vom 16.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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