Historie:Gastarbeiter - eine Reise ins Ungewisse

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Italienische Arbeiter haben in München eine jahrhundertelange Tradition mit dunklen Kapiteln während des Faschismus. Doch der Schein der "nördlichsten Stadt Italiens" trügt: Integriert sind die Italiener vielleicht sogar noch schlechter als andere Nationen.

Birgit Lutz-Temsch

1955 wird München international, wird Deutschland zum Einwanderungsland: Am 20. Dezember 1955 setzen der deutsche Bundesarbeitsminister Anton Storch und der italienische Außenminister Gaetano Martino in Rom ihre Unterschriften unter den ersten Anwerbevertrag, mit dem sich deutsche Firmen im Süden dringend benötigte Arbeitskräfte besorgen konnten.

Gastarbeiter bei der Ankunft in Deutschland. (Foto: Foto: dpa)

2,3 Millionen Gastarbeiter holte die Bundesanstalt für Arbeit auf diese Weise in den Folgejahren in die Republik holen, unzählige andere kommen auf privatem Wege hinzu. Die Italiener sind damit die ersten Gastarbeiter, die nach Deutschland kommen - und für fünf Jahre auch die einzigen. Erst 1960 folgen Verträge mit Spanien und Griechenland, mit der Türkei 1961, mit Portugal 1964 und mit Jugoslawien 1968.

"Die Italiener nehmen unter den Gastarbeitern in München eine Sonderstellung ein", sagt Martin Baumeister, an der Ludwig-Maximilians-Universität München - nicht nur, weil ihr Land als erstes einen Vertrag unterzeichnet. Dass Italiener nach München kommen, hat Tradition: "Zum einen galten Italiener schon in früheren Jahrhunderten als Spezialisten im Kunsthandwerk, als Baumeister, in der Mode", sagt er. "Zum anderen gab es schon lange eine saisonalen Zuwanderung von Wanderhändlern und Arbeitern vor allem aus dem Friaul." Verächtlich werden diese Händler im 19. Jahrhundert "Katzelmacher" genannt, was vermutlich auf deren Herstellung von Schöpflöffeln - Gatzeln - zurückzuführen ist.

1891 arbeiten in den Münchner Ziegeleien fast 6000 Italiener, eine schmutzige und schwere Arbeit, die oft auch von Frauen geleistet wird. 1937 schließen das faschistische Berlin und Mussolinis Rom ein Anwerbeabkommen über Arbeiter in der Landwirtschaft. Anfang 1943 sind mehr als 350000 italienische "Fremdarbeiter" in Deutschland. Beim Ausscheren Italiens im September 1943 werden die Fremd- zu Zwangsarbeitern.

Ende 1944 leben im Zuständigkeitsbereich des italienischen Generalkonsulats in München mehr als 100000 italienische Zwangsarbeiter, 10000 davon direkt in München. Von den unmenschlichen Bedingungen, denen die Italiener ausgesetzt waren, zeugen heute noch die Gräber auf dem Münchner Waldfriedhof.

Beiderseitiger Nutzen

Der Abschluss des Anwerbeabkommens soll für beide Nationen gleichermaßen von Nutzen sein: Im italienischen Süden ist die Arbeitslosenquote hoch; in den wenigen Industriebetrieben findet nur ein Bruchteil der Menschen Arbeit. Armut und Hunger sind die Folgen, die der italienische Staat nicht zu bekämpfen in der Lage ist. In Deutschland dagegen gilt es, ein ganzes Land wieder aufzubauen - Infrastruktur, Straßen, Brücken, Firmen - und dazu reichen bald die eigenen Kräfte nicht mehr aus.

1955 gibt es in München im Baugewerbe 2331 Arbeitslose, aber nur 1264 offene Stellen. Bis 1971 wird das Verhältnis, trotz der angeworbenen ausländischen Arbeitskräfte noch dramatischer: 3098 offenen Stellen stehen ganze neun Arbeitslose gegenüber.

Und so kommt Anfang 1956 die nach deutscher Art systematisch geplante Völkerwanderung in Gang: Die Italiener, die über die staatlich gesteuerte Arbeitsvermittlung nach Deutschland wollen, müssen sich zuerst in Verona melden und dort von Kopf bis Fuß ärztlich untersuchen lassen. Danach fahren sie mit schlecht ausgestatteten Zügen über die Alpen.

Das erste, was die meisten Gastarbeiter in Deutschland sehen, ist der Münchner Hauptbahnhof. Hunderte, Tausende Kilometer und manchmal tagelange Reisen liegen hinter den Menschen, die an den Bahnsteigen aus den Zügen quellen.

Wer nicht in München bleibt - und das sind die meisten - muss in den nächsten Zug umsteigen. Nach Stuttgart, Wolfsburg, Solingen. 1961 kommen auf den Münchner Bahnsteigen 107000 Italiener, 21500 Griechen, und 1200 Türken in der so genannten Weiterleitungsstelle an. Fast die gleiche Anzahl kommt damals schon auf privatem Wege hinzu - an manchen Tagen steigen also mehr als 3000 Menschen aus den Zügen.

In München werden die Männer wie in deb anderen Zielorten von ihren künftigen Arbeitgebern, die anfänglich 50 Mark Vermittlungsgebühr für einen Italiener bezahlen müssen, abgeholt und in ihre Unterkünfte gebracht. Die meisten kommen in notdürftig möblierte Baracken, in denen vier, fünf Männer in einem Zimmer schliefen. "Lager" heißen diese Behausungen, weil sie oft gleichzeitig als Materiallager dienen.

Ramersdorf, Hasenbergl, Olypmpiazentrum

Und dann arbeiten sie. Schwere, unangenehme Tätigkeiten, die meisten als ungelernte Arbeiter. Bei BMW, Kraus-Maffei, MAN, auf Baustellen. Gastarbeiter bauen die U-Bahn, das Olympiagelände, ganz Neuperlach, das Hasenbergl, halb Ramersdorf. Und tragen dabei mehr zum Bruttosozialprodukt bei, als ihre deutschen Kollegen: Die "Problemstudie" der Stadt München aus dem Jahr 1972 schildert, dass die Erwerbstätigkeit der Ausländer damals bei 70 Prozent liegt - bei den Deutschen aber nur bei 50 Prozent.

Ein deutscher Münchner steuert statistisch gesehen demnach 14000 Mark jährlich zum Bruttosozialprodukt bei, ein ausländischer dagegen 21000. Im Vergleich mit den anderen Gastarbeitern, die nach München kommen, haben die Italiener weniger mit Vorbehalten zu kämpfen. Dabei hilft auch der gemeinsame Glaube und der sonntägliche Kirchgang, den es zum Beispiel mit den türkischen Arbeitern nicht gibt.

Wirklich willkommen sind die Italiener trotzdem nicht. Auch hier nehmen sie eine Sonderstellung ein: Die Deutschen begegnen ihnen "mit einer Mischung aus Bevormundung und Herablassung und einem romantisierenden Blick, der von einer langen bildungsbürgerlich geprägten Italiensehnsucht, aber auch von den Stereotypen des beginnenden Massentourismus geprägt war", so Baumeister.

Verzerrtes Bild

Die Folge dieser ambivalenten Sicht ist eine in der deutschen Öffentlichkeit völlig verzerrte Sicht auf die Integration der Italiener: Italiener gelten als gut integriert, gerade in München, wo es 600 italienische Gaststätten gibt und immer wieder stolz behauptet wird, man sei die nördlichste Stadt Italiens. In Wahrheit haben gerade die Italiener die höchsten Rückkehrerquoten und den geringsten Anteil an arbeitenden Frauen.

Und in der Schule schneiden die italienischen Kinder heute am schlechtesten unter den Ausländerkindern ab - gerade in Bayern und Baden-Württemberg. Eine "Scheinintegration" nennt Natale Perugini das, der seit 1969 in Deutschland ist und in München das Gewerkschaftsbüro der italienischen Cisl leitet.

Ein Vorteil, den die Italiener gegenüber den anderen Ausländern haben, habe sich in einen Nachteil umgewandelt: Da sie zur EU gehören, sind sie bald nicht mehr auf die Anwerbekommission angewiesen, können selbstständig Arbeit suchen, nach Italien zurück gehen und wiederkommen, wie es ihnen gefällt. Perugini sagt: "Die Türken haben mit der Musik, die hier gespielt wurde, getanzt, auch wenn sie ihnen nicht gefallen hat. Sie wussten, es würde schwierig sein, zurückzugehen und dann wieder nach Deutschland reinzukommen. Die Italiener sind schneller wieder zurück. Und weil dort nichts besser wurde, wieder hierher."

Die Folge: Die Kinder lernen keine der Sprachen richtig, und scheitern dann vor allem am süddeutschen Schulsystem mit seiner auch in der Pisa-Studie stark kritisierten frühen Weichenstellung. Dabei sei Sprache so wichtig, sagt Perugini: "Ohne sie kann man eine Gesellschaft gar nicht verstehen. Erst wenn man die Sprache spricht, kann man die Kultur genießen - und auch kritisch seine Stimme erheben."

In seinem Büro in der Schwanthalerstraße hilft Perugini italienischen Arbeitern in sozialen Fragen - heute vor allem mit komplizierten Rentenanträgen.

Dass dem 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens so wenig Aufmerksamkeit in der deutschen Presse wiederfindet, sei zwar schade, "aber daran hat nicht die Welt schuld, sondern auch Italien, das seine Emigration nicht thematisiert. Und wenn, dann gibt es bei uns immer nur zwei Arten: entweder werden wir als Kulturbotschafter in der ganzen Welt hingestellt, oder als arme in ihrem Blut sterbende Minenarbeiter heroisiert. Dazwischen gibt es nichts." Perugini ist froh dass er nach Deutschland gekomen ist, "sonst wäre ich kaum so lange geblieben!", sagt er. Aber manchmal versteht er dieses Land nicht. Am wenigsten die Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht.

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