Goethe-Lesung in der U-Bahn München:Wie der Faust aufs Auge

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Am Samstag um 10.34 Uhr wird ein junger Mann in die Münchner U-Bahn steigen und dort Goethes Faust rezitieren - ohne Buch. Sein Lohn: zwei Kästen Bier. Im SZ-Gespräch erzählt Leonard Schülen, wie er 4164 Verse auswendig gelernt hat, warum er gerne altklug ist und wie sich Goethe im Alltag einsetzen lässt.

Katrin Kuntz

Er will Physik studieren und später noch Philosophie. Der Abiturient Leonhard Schülen, 20, aus Obersendling hat den ersten Teil von Goethes "Faust" auswendig gelernt: 4164 Verse, in einem Reclamheftchen sind das 135 Seiten. An diesem Samstag steigt er in Thalkirchen um 10.34 Uhr in die Linie U 3 in Richtung Olympia-Einkaufszentrum, um das Werk vorzutragen.

"Freud muss Leid und Leid muss Freude haben." Fast ein halbes Jahr lang hat Leonard Schülen sich vorbereitet, um am Samstag in der U3 in München frei aus Faust rezitieren zu können. (Foto: Stephan Rumpf)

SZ: Sie hören nicht die folgenden Gesänge, die Seelen, denen ich die ersten sang...

Leonhard Schülen: ... zerstoben ist das freundliche Gedränge, verklungen ach, der erste Wiederklang. Mein Lied ertönt der unbekannten Menge, ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang, und was sich sonst an meinem Lied erfreuet, wenn es noch lebt, irrt in der Welt zerstreuet.

Respekt. Stichprobe bestanden.

Danke. Das war die dritte Strophe der vier Stanzen aus "Zueignung". Nicht unbedingt die schwierigste Stelle.

Wie lange hat es gedauert, den ganzen "Faust" auswendig zu lernen?

Sehr lange. Ich habe vor einem halben Jahr angefangen. Die letzten zwei Monate waren sehr intensiv. Vor einer Woche habe ich mit dem Wiederholen begonnen. Das mache ich so zehn bis zwölf Stunden am Tag.

Oh. Und so haben Sie sich alles gemerkt?

Naja, da alles in Reimform geschrieben ist, fällt es gar nicht so schwer. Ich lese eine Szene mehrmals durch, dann lese ich nur die Seite und dann lerne ich eben Zeile für Zeile auswendig. Es hilft übrigens sehr, wenn man beim Auswendiglernen spazieren geht. Ich war bis Juni drei Monate auf dem Jakobsweg unterwegs, da hatte ich genug Zeit.

Wie kommt man überhaupt auf die Idee, den "Faust" auswendig zu lernen?

Er ist mein Lieblingswerk, ich habe ihn bestimmt sieben oder acht Mal gelesen. Und dann bin ich eine Wette eingegangen...

Die da lautet?

Ich habe ja manchmal eine leicht altkluge Art, das gehört wohl zu meinem Charakter. Wenn ich mit Freunden unterwegs bin, lasse ich ziemlich oft Faust-Zitate fallen. Ein Spezl war irgendwann ein bisschen genervt davon und hat mich herausgefordert. Er meinte, ich könne ohnehin nur mit Fragmenten um mich werfen und werde es nicht schaffen, das ganze Werk auswendig zu lernen.

An diesem Samstag wollen Sie das Gegenteil beweisen. Was passiert, wenn Sie scheitern?

Wir werden bestimmt vier Stunden im ganzen U-Bahn-Netz unterwegs sein. Mein Freund ist dabei und kontrolliert mich anhand der Reclamausgabe - das wird eine Herausforderung. Aber ich werde die Wette natürlich nicht verlieren. Immerhin geht es um zwei Kästen Bier.

Welche Zitate waren das, mit denen Sie die Wette provoziert haben?

Viele! Das Schöne ist ja, dass der "Faust" unerschöpflich ist. Es gibt Zitate für alle Lebenslagen. Der Klassiker ist natürlich: "Nun steh ich da ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor". Das habe ich zum Beispiel nach dem Abitur gesagt. "Ich bin der Geist, der stets verneint", sage ich, wenn ich mit Freunden diskutiere und nicht ihrer Meinung bin. Oder meine Antwort auf ein erstauntes "Ach, echt?": "Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewusst."

Stört es Sie eigentlich, wenn Sie jemand altklug nennt?

Überhaupt nicht. Stimmt ja durchaus.

Was mögen Sie am "Faust"?

Seine unglaubliche Sprachgewalt. Viele sagen, Deutsch sei eine hässliche, harte Sprache. Das stimmt nicht. Goethes Sprache ist wunderschön. "Selig" zum Beispiel! Sprechen Sie sich das mal vor! Und: Der "Faust" enthält alle Themen, die im Leben wichtig sind. Wonach sollen wir streben? Woran sollen wir glauben? Was ist Liebe? Was ist das Böse? Warum leiden wir gerne?

Glauben Sie, dass man leiden muss, um etwas zu erreichen?

Ich habe beim Auswendiglernen sehr gelitten! Aber es ist doch immer so: Je härter man sich etwas erkämpft, desto intensiver freut man sich über den Erfolg.

Wahrscheinlich gibt es auch dafür ein "Faust"-Zitat?

Oh ja. "Freud muss Leid und Leid muss Freude haben."

© SZ vom 31.12.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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