Gelungene Vermittlung:Auf ein Eis zu Herrn Lensen

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Auf dem Namensschild steht "Herr Lensen", das ist eigentlich der Vorname, aber mit dem tun sich die Kunden leichter. Nicht nur bei den Kindern, die zur Tankstelle kommen, ist Lensen Arkalios beliebt. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Wenn Sprachprobleme, eine schwere Behinderung und fehlende Erfahrung zusammenkommen, ist das noch lange kein Grund aufzugeben. Der Fall des Irakers Lensen Arkalios zeigt, wie es das Münchner Jobcenter schafft, Menschen mit "multiplen Vermittlungshemmnissen" am Ende doch zu vermitteln

Von Milena Hassenkamp

Lensen Arkalios macht alles in Ruhe. "Wenn meine Schicht eigentlich um 6 Uhr beginnt, dann komme ich lieber um 5.15 Uhr. So habe ich mehr Zeit." Arkalios ist schwerbehindert, sein rechtes Bein kann der 57-Jährige seit einem Unfall nicht mehr belasten. Immerhin darf er aber jetzt wieder arbeiten. 30 Stunden in der Woche steht er hinter der Kasse einer Tankstelle in Bogenhausen. Grund dafür ist die Eingliederungsmaßnahme "Chance für München" - vor allem aber sein eigenes Engagement.

Lensen Arkalios liebt seine Kasse. "Vielleicht, weil ich im Irak BWL studiert habe", sagt er. Doch als er 2000 nach Deutschland flieht, kann er seine Zeugnisse nicht mitnehmen. Hier steht er, ein 40-jähriger schwerbehinderter Mann, ohne Deutschkenntnisse, ohne Ausbildung, und muss neu anfangen. Seinen Deutschkurs zahlt er selbst. Perfekt ist sein Deutsch bis heute nicht, vielleicht muss das aber auch gar nicht sein, immer wieder wechselt er beim Reden ins Englische. Seine restliche Familie ist nach Amerika ausgewandert. Mit ihnen spricht er kein Arabisch.

Vor Arkalios stehen die neunjährige Elisa und die fünf Jahre alte Livia. Sie haben ihr Eis auf die Theke gelegt. Der Verkäufer lächelt, nimmt das Eis, scannt es ein und setzt sich die schwarze Lesebrille auf, um die Kasse bessern bedienen zu können. Die Kinder kommen oft her. Sie mögen "Herrn Lensen". So steht es auf seinem Namensschild, das auf die Brusttasche des braunen Tankstellen-Shirts gepinnt ist. "Namen bedeuten nichts", sagt der 57-Jährige. Mit seinem Vornamen hätten die Kunden eben weniger Probleme.

Lensen Arkalios ist es gewohnt, sich anzupassen. Im Irak hatte er mit seiner Familie ein Restaurant. Nach seiner Ankunft in Deutschland arbeitet er als ambulanter Pflegehelfer. Das ist nicht leicht mit einem Bein, das infolge einer Kinderlähmung zunehmend Muskelkraft verliert. Er wechselt den Job, arbeitet in einer Bäckerei, danach versucht er es als Betreuungsassistent. Das Arbeitsverhältnis ist befristet. Als er sich bei einem Fahrradsturz den Oberschenkel bricht, ist nicht klar, ob er jemals wieder arbeiten kann. Was bei anderen drei Monate dauert, dauert bei ihm ein Jahr. Dann will er wieder raus, etwas tun, nicht nur zu Hause sitzen. Täglich liest er Stellenanzeigen. Warum es erst nirgendwo klappt? "Sprache, Behinderung, keine Erfahrung", sagt Lensen Arkalios. Für die "guten Stellen" bewirbt er sich gar nicht erst.

Menschen mit sogenannten "multiplen Vermittlungshemmnissen" haben nur geringe Chancen auf einen Arbeitsplatz. 2016 wurden in München nur 12,7 Prozent von ihnen vermittelt: 541 schwerbehinderte Personen nahmen nach Angaben des Jobcenters eine Arbeit auf. "Die Firmen denken erstmal: Der hält mich auf!", sagt David Riedel, der Projektleiter von "Chance für München". "Dabei gehen die Vorstellungen, die sich die Firmen von jemandem mit Schwerbehinderung machen, und die Realität oft auseinander". Viele Personaler scheuten zudem die Unkündbarkeit eines schwerbehinderten Mitarbeiters. "Dabei gilt der besondere Kündigungsschutz erst ab sechs Monaten Betriebszugehörigkeit", erklärt David Riedel. "Danach muss das Integrationsamt zustimmen, aber das tut es in der großen Mehrheit der Fälle. Wenn Verhalten oder Leistung nicht passen, spielt es oft keine Rolle, ob ein Mitarbeiter im Rollstuhl sitzt oder Epileptiker ist." Die Kündigung wird dann wirksam. "Auch das ist Integration".

Als das Jobcenter Lensen Arkalios im Februar 2016 zum Projekt "Chance für München" schickt, besucht er seine "Integrationsmanagerin" Jana Schulz fast jede Woche. "Mehr als 50 Bewerbungen haben wir abgeschickt", erinnert sich Schulz, eine von fünf Betreuern, die sich gemeinsam um durchschnittlich 25 Teilnehmer kümmern. Oft kommt es nicht einmal zum Vorstellungsgespräch. Arkalios aber gibt nicht auf. Er übernimmt eine Urlaubsvertretung beim Bäcker und merkt: Das macht ihm Spaß. An der Kasse stehen, mit Kunden sprechen. Er kann das. Auch ein Praktikum im Drogeriemarkt macht ihm Mut. "Ich hatte so lange nicht gearbeitet, aber ich habe gemerkt: Ich schaffe das, wenn ich alles in Ruhe mache."

Ganz in Ruhe knipst "Herr Lensen" auch an diesem Morgen um kurz nach fünf Uhr die Lichter der Tankstelle an, sortiert die Flaschen im Kühlschrank, schaltet den Backofen ein, backt Brötchen und Croissants. In Ruhe hört er den Stammkunden zu, liest Lottoscheine ein, kocht Kaffee und macht Witze. Neben Arkalios steht Mahmoud Nagy, auch er trägt das braune Shirt der Tankstelle. Seit sechs Jahren arbeitet Nagy schon hier, seit zwei Monaten weicht er Lensen Arkalios nicht von der Seite. Gegen 15 Uhr betritt eine Frau die Tankstelle. "Ich bräuchte mal einen starken Mann! Mein Tankdeckel klemmt". Die beiden Männern kichern. "Das ist mein Job", sagt Herr Nagy und folgt der jungen Frau nach draußen. Arkalios bleibt zurück. Mit den sehnigen Armen stützt er sich auf dem Tresen ab. Er steht immer auf seinem linken Bein. Wenn es weh tut, stützt er sich mit aller Kraft auf den Tresen und hebt das Bein für einige Sekunden ab. "Ich spüre es gar nicht mehr", sagt er, "es macht mich nur langsamer".

Ein Jahr lang begleitet Jana Schulz den 57-Jährigen zu Vorstellungsterminen, erklärt Personalentscheidern seine besondere Situation, macht Arkalios Mut. Wie wichtig diese Einzelfallbetreuung ist, zeigt die Vermittlungsquote. Nach knapp zwei Jahren hat diese die Erwartungen des Projekts übertroffen. 25 Prozent Integrationsquote hatte als Ziel im gemeinsamen Antrag mit dem Münchner Jobcenter gestanden für die Fördergelder der "Initiative Inklusion" des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Das war doppelt so viel wie der Referenzwert, eine Integrationsquote von 12,5 Prozent jährlich, die als geschäftspolitisches Ziel für das Jobcenter München bei der Aufnahme von Menschen mit Schwerbehinderung gilt. Auf dem ersten Arbeitsmarkt ist dieses Ziel inzwischen übertroffen: rund 30 Prozent der Teilnehmer von "Chance für München" haben inzwischen eine sozialversicherungspflichtige Stelle.

Geschafft hat es Lensen Arkalios schließlich dennoch ganz alleine. Während Jana Schulz im Urlaub ist, entdeckt er die Anzeige der Tankstelle in einer Zeitung und fährt hin. Die Chefin stellt ihn ein: 30 Stunden die Woche, sechs Monate Probezeit. Die Hälfte seines Gehalts wird über einen Eingliederungszuschuss vom Jobcenter finanziert. Dieser Finanzhilfe kann bis zu acht Jahre lang gewährt werden. Sie soll die sogenannte Minderleistung eines Schwerbehinderten bei der Arbeit ausgleichen und so den Unternehmen einen Anreiz bei der Einstellung bieten. Bei Lensen Arkalios ist der Zuschuss vorerst auf ein Jahr beschränkt. Außerdem erhält auch er ein Einstiegsgeld von rund 300 Euro.

"Das Gefühl", sagt er, "kann ich gar nicht beschreiben." Er ist stolz darauf, dass er nicht aufgegeben hat. "Ich habe bekommen, was ich suchte. Jetzt muss ich alles geben!"

© SZ vom 24.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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