Gedankenspiel:Beete statt Brummis

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Wie könnte ein Leben in einer Stadt ohne Autos aussehen? Eine fiktive Radfahrt im morgendlichen Berufsverkehr von Neuhausen nach Schwabing

Von Christoph Behrens, München

Rrrrring! Der Wecker reißt Marie aus dem Schlaf. Acht Uhr. Draußen ist es ruhig, bis zum Klingeln hat sie durchgeschlafen. Früher wachte Marie oft schon um sechs Uhr auf, wenn die ersten Lastwagen über die Landshuter Allee vor ihrem Fenster donnerten. Erst vor einigen Monaten hat München beschlossen, autofrei zu werden, und manchmal kann Marie es selbst noch nicht fassen: Die Autos sind tatsächlich weg! Hunderte Fahrradfahrer sind bereits auf der sechsspurigen Landshuter Allee unterwegs, sie haben die Stadtautobahn weitgehend für sich, nur in der Mitte zieht gelegentlich ein Omnibus in Richtung S-Bahn vorbei.

Auch Marie fährt mit dem Rad in die Arbeit. Sie biegt in die Nymphenburger Straße ein, zwei neue Fahrradspuren gibt es in jeder Richtung, an den Kreuzungen zusätzlich eine Abbiegespur. Marie fädelt auf die linke Spur ein, zu den langsameren Verkehrsteilnehmern weiter rechts ist ein guter Meter Abstand. Wie anders war das noch vor einem Jahr. An manchen Stellen war das Nadelöhr weniger als einen Meter breit, manchmal parkten Lieferfahrzeuge einfach auf dem Radweg. Irgendwann hörte Marie auf, die gefährlichen Situationen zu zählen und per E-Mail an die Stadtverwaltung zu schicken. Es waren einfach zu viele. Jetzt hat Marie freie Bahn und schaltet in den nächsten Gang. Von links spürt sie einen Luftzug. Schon hat der Mann im dunklen Anzug sie überholt. Schickes Teil, denkt Marie beim Blick auf dessen carbongraues E-Bike. So eins wird sie sich mit ihrem Gehalt wohl nie leisten können. Andererseits haben in ihrem Viertel kürzlich erst zwei neue Läden für elektrische Fahrräder eröffnet. Die Preise scheinen zu sinken, der Markt kommt in Bewegung. Nicht nur für Zweiräder: Ein junger Mann rollt auf einem elektrischen Skateboard dahin, ein Mittvierziger hat sich auf ein elektrisches Einrad gewagt. Marie überholt einen älteren Mann, der auf der Rückbank einer Fahrradrikscha fläzt.

Auch einige Boten mit grünen, gelben, roten Käppis sind auf den rechten Fahrspuren mit ihren elektrischen Lastenrädern unterwegs. Was hatten die Gegner der autofreien Stadt vor der Volksabstimmung nicht alles behauptet, um das Projekt aufzuhalten: Die Logistik werde zusammenbrechen, der Berufsverkehr zum Erliegen kommen. Doch davon ist nichts zu sehen. Das Hupen eines Taxis reißt Marie aus ihren Gedanken. Dass man Taxis die Weiterfahrt erlaubt, findet Marie in Ordnung, vor allem für ältere Leute ist diese Option wohl unverzichtbar. Ärgerlich aber, dass auch einige Tausend Privatpersonen Ausnahmegenehmigungen haben. Dass man eine erhält, wenn man beispielsweise einen Angehörigen pflegt, geht ja in Ordnung. Aber Marie hat den Verdacht, dass viele die Scheine für den eigenen Vorteil ausnutzen. Bei schlechtem Wetter wären mehr Ausnahmen hingegen wünschenswert, findet sie. Zwar sind bei Regen Verstärker-Busse und Trams unterwegs, doch im vergangenen Winter reichte das nicht aus. Häufig mussten deren Fahrer Pendler wegen Überfüllung stehen lassen - der Ärger war groß. Die Stadt denkt nun darüber nach, bei Mistwetter Carsharing-Anbietern den Zugang zur Straße zu erleichtern und im Winter private Fahrgemeinschaften zuzulassen. Vielleicht keine schlechte Idee - jedenfalls besser, als das ganze Projekt wegen Schlechtwetterfrust zu gefährden, denkt Marie.

Kurz vor dem Stiglmaierplatz lässt sie ihr Rad ausrollen und hält vor der Baustellenampel. Ein Loch so groß wie ein Tennisplatz klafft im Asphalt. Die Baustellen für neue U- und S- Bahnen nimmt Marie bislang gern in Kauf, sie weiß, dass viele im Bekanntenkreis ähnlich denken. Auf Partys ist das Autoverbot immer noch Thema Nummer eins. Einige ihrer Bekannten sind froh, dass sie in ihren Lieblingsrestaurants nun viel entspannter draußen sitzen können. Nicht ganz so gut läuft es für die Pendler in den Landkreisen - die Bahn ist mit der Erweiterung des S-Bahn-Netzes offenbar überfordert. Ihre Freunde, die aufs Land gezogen sind, beneidet Marie derzeit nicht. Kürzlich rief ein Automobilclub zur "Autofahrer-Freiheitsfahrt" auf, ein Protest-Korso aus einigen Tausend Fahrzeugen verstopfte dann die Autobahn.

Die Ampel schaltet auf Grün, fünf Minuten später biegt Marie auf die Leopoldstraße ein. Auf der Prachtstraße haben sich die Bürger einen Teil des öffentlichen Raums zurückerobert: In der Mitte des Boulevards stehen große Blumenkästen, die beide Fahrtrichtungen trennen. Die Beete können bei der Stadt gemietet werden, der Andrang ist riesig. In Giesing hat man auf den freigewordenen Flächen Bahnen für Boulespieler gebaut, in Schwabing mitten auf der Straße Netze für Badminton und Volleyball gespannt. An Dutzenden Beeten fährt Marie vorbei, bis sie die Einfahrt zu ihrem Büro erreicht. Sie freut sich schon auf den Rückweg.

© SZ vom 08.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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