Gebietsreform:Kampf um jedes Ortsschild

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Ein Glück für die Baldhamer: Die Anregung des Landratsamtes, allen Vaterstettener Ortsteilen einen Einheitsnamen zu verpassen, wird doch nicht durchgesetzt. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Vor 40 Jahren wurde der Landkreis Ebersberg neu geordnet. Zahlreiche Kommunen wurden damit zu Ortsteilen.

Von Wieland Bögel

Nicht alles, was zusammenwächst, gehört auch zusammen. Zumindest empfanden dies viele Landkreisbewohner, deren Dörfer vor 40 Jahren mit Nachbarorten verschmolzen wurden. Die Gemeindegebietsreform trat in den Siebzigerjahren ihre entscheidende Phase an. Viele kleine, bis dahin und seit Jahrhunderten selbständige Ortschaften verloren endgültig ihre Eigenständigkeit und existierten künftig nur noch als Teile anderer Gemeinden weiter. Im Westen des Landkreises entstand so die neue Großgemeinde Vaterstetten; den beiden Städten Grafing und Ebersberg wurden zahlreiche umliegende Dörfer angegliedert. Aber manche Ortschaften schafften es auch, sich trotz der Reform ihre Eigenständigkeit zu bewahren, etwa Hohenlinden, Forstinning und Anzing. Die drei Gemeinden nördlich des Forstes hätten eigentlich verschmolzen werden sollen, erst Anfang 1978 war diese Fusion vom Tisch.

Doch damit war Hohenlinden die große Ausnahme. Als das Weiterbestehen als eigenständige Gemeinde beschlossen wurde, war im übrigen Bayern die Zahl der Gemeinden innerhalb von sechs Jahren um gut zwei Drittel gesunken. Bereits seit 1967 gab es parteiübergreifend im Landtag die Forderung nach einer Reform der Kreise und Gemeinden; drei Jahre später wurde diese dann Gesetz. Die Merk-Reform, benannt nach dem damaligen Innenminister Bruno Merk, sah eine drastische Reduzierung der Zahl der Verwaltungseinheiten vor. Gab es 1972 noch 143 Landkreise, 48 kreisfreie Städte und 6962 Gemeinden, blieben nach der Reform noch 71 Landkreise, 23 kreisfreie Städte und 2051 kreisangehörige Gemeinden oder Städte.

Im Landkreis Ebersberg sank die Zahl der Gemeinden von 29 auf 21 - und eine neue entstand

Im Landkreis Ebersberg sank die Zahl der Gemeinden von 29 vor der Reform auf danach noch 21. Aber es verschwanden nicht nur Gemeinden. Im Westen des Landkreises entstand eine komplett neue: Vaterstetten. Zwar hatte es den Ort bereits zuvor gegeben - seit dem späten 19. Jahrhundert verfügte er sogar über einen Bahnhof - allerdings nur als Teil der Gemeinde Parsdorf. Dort befand sich auch das Rathaus, das Gebäude steht bis heute. Seit 1971, mit dem Bezug des neuen Rathauses, begann sich das Zentrum der Gemeinde aber von ihrem alten Hauptort in Richtung Vaterstetten zu entwickeln.

Im Jahr 1977 nun nahm die neue Großgemeinde ihre endgültige Gestalt an, mit der Eingemeindung von Teilen der Nachbarn. Etwa das Gebiet Waldkolonie der Gemeinde Pöring. Diese selbst wurde mit Beschluss des dortigen Gemeinderates vom September 1977 aufgelöst und größtenteils nach Zorneding eingemeindet. Diese verlor durch die Reform aber ebenfalls: Nahezu ihr gesamtes westliches Gemeindegebiet, die Kolonie Baldham, wurde Vaterstetten zugeschlagen, worüber die Zornedinger nicht sehr glücklich waren.

"Das war keine Liebesheirat", erinnert sich Vaterstettens Zweiter Bürgermeister Martin Wagner, der damals dem Parsdorfer Gemeinderat angehörte. Weniger Probleme habe es noch mit den einst Pöringer Ortsteilen gegeben, sagt Wagner. Was auch ein Blick in die alten Ausgaben der Ebersberger Neuesten Nachrichten (der damalige Name der heutigen SZ Ebersberg) bestätigt: "Pöringer Gemeinderat stimmt Vertrag zu" lautete am 2. September 1977 die Überschrift zum Aufmacher auf Seite eins, der über die Auflösung der Gemeinde Pöring berichtet.

Weniger harmonisch verlief der Beitritt einiger einstmals Zornedinger Gebiete, erinnert sich Wagner: "Die Baldhamer wollten eigentlich nicht zu uns". Denn das Gebiet südlich des Baldhamer Bahnhofes, entlang der heutigen Karl-Böhm-Straße, galt schon damals als Wohnort der besseren Gesellschaft.

Viele reiche Münchner, sogar berühmte Kulturschaffende aus der Region hatten sich dort niedergelassen. "Für die war Parsdorf feindliches Ausland oder zumindest die Bauerngemeinde", sagt Wagner. Zusätzlichen Konfliktstoff brachte eine Anregung des Landratsamtes, für die zu entstehende neue Gemeinde künftig nur noch den Einheitsnamen Vaterstetten auf die Ortsschilder drucken zu lassen. "Ab 1978 nur noch der Einheitsname Vaterstetten", verkündeten die ENN am 12. September 1977. Und drei Tage später veröffentlichte sie unter dem Titel "Baldham darf nicht sang- und klanglos untergehen" Briefe empörter Baldhamer.

Der Gemeinderat der neuen Großkommune war zunächst der Anregung aus Ebersberg gefolgt - ruderte dann aber, wohl auch aufgrund solcher Reaktionen, zurück. Wagner kann sich noch gut erinnern, dass die Baldhamer über "die Überlegung, den alten Namen aufzugeben", sehr verärgert gewesen seien - aber nicht nur diese. "Auch nicht alle Parsdorfer waren glücklich darüber, dass sie jetzt zu Vaterstettener werden sollten," so Wagner. Unterstützung erhielten die Kritiker der Einheitsschilder aus Zorneding. "Empört" sei der dortige Gemeinderat von der Idee gewesen, berichten die ENN am 24. September 1977. Die Idee der Einheitsschilder wurde schließlich fallengelassen.

Auch mit den Vorbesitzern des neuen Ortsteils gab es bis zum Schluss Streit. "Sobald klar war, dass das zu Parsdorf kommt, hat Zorneding nichts mehr investiert", so Wagner. Einige dieser Altlasten beschäftigen die Vaterstettener bis heute. Etwa als sich vor einigen Jahren herausstellte, dass die Zornedinger in den 1970er Jahren zwar den Gartenweg neu angelegt, es aber versäumt hatten, ordentliche Übernahmeverträge mit den Anliegern zu schließen. Lange umstritten war auch die Höhe des Finanzausgleichs, den Parsdorf an die Zornedinger zu zahlen hatte. "Parsdorfer wollen weniger zahlen", titelten darum auch die ENN am 8. Oktober 1977

Einen Monat später gaben die Parsdorfer Gemeinderäte ihren Widerstand gegen eine entsprechende Anordnung des Landratsamtes auf. Man erklärte sich bereit, neben Restschulden für Bauprojekte - etwa Baldhams Bahnunterführung, Schule und Turnhalle - in Höhe von 547 000 Mark den Zornedingern zusätzlich 350 000 Mark für entgangene Steuerkraft zu bezahlen. Eine Entscheidung, die am 5. November 1977 in den ENN unter der bemerkenswerten Überschrift ihren Niederschlag fand "Parsdorf löckt nicht mehr wider den Stachel" und den Verfasser als fundierten Kenner sowohl kommunalpolitischer Finessen als auch klassischer Texte ausweist.

Eher prosaisch die Überschrift vom 25. November 1977: "Nur geringe Chancen für Hohenlinden" räumten die ENN der Gemeinde ein. Hintergrund war der Besuch des Landtagsabgeordneten Paul Diethei, der den Hohenlindenern klipp und klar gesagt hatte, an der Verwaltungsgemeinschaft mit Forstinning führe kein Weg vorbei. "Das war ein starkes Stück" erinnert sich Peter Speckmaier an die Versuche, beide Gemeinden zu verschmelzen. Der langjährige Hohenlindener CSU-Gemeinderat und Ortsvorsitzende war einer der größten Gegner der Fusion.

Ende der Siebzigerjahre sollten Hohenlinden und Forstinning verschmolzen werden

Auch als diese nach und nach abgeschwächt wurde - aus einer Dreiergemeinschaft mit Anzing wurde 1975 zunächst nur die Verbindung mit Forstinning - waren die Hohenlindener mehrheitlich dagegen. Was, wie Speckmaier sagt, vor allem daran lag, dass seine Gemeinde der Juniorpartner dabei werden sollte. Verwaltungssitz wäre Forstinning geworden. "Dabei hatten wir damals auch schon mehr als 2000 Einwohner und eine gute Infrastruktur." Um in München zu zeigen, dass Hohenlinden bedeutungsvoll genug ist, eigenständig zu bleiben, griff Speckmaier zur Kamera und fotografierte "alle möglichen Einrichtungen" in der Gemeinde. Einen telefonbuchdicken Bildband habe das am Ende ergeben, gelandet ist dieser dann auf dem Schreibtisch von Franz Josef Strauß, der sich 1977 anschickte, bayerischer Ministerpräsident zu werden. Außerdem habe Strauß immer betont, einige Härten der Reform abzumildern, erinnert sich Speckmaier. "Er hat Hohenlinden sogar in einer Rede als Beispiel dafür genannt."

Doch ein bisschen zittern mussten die Hohenlindener um ihre Eigenständigkeit weiterhin - genau wie die Anzinger und Forstinninger. Gut einen Monat vor der Landtagswahl 1978 titelten die ENN: "Dreiergemeinschaft ist sicher". Es ging um ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofes, der die eigentlich schon verworfene Zusammenlegung der drei nördlichen Forstgemeinden zum Inhalt hatte. Eine Woche nach dem Urnengang, am 25. Oktober 1978, las sich das schon entspannter: "Neue Entscheidung für Anzing" lautete die Überschrift, und einige Tage später konnten sich auch die Einwohner der anderen beiden Gemeinden freuen, so sie ENN-Leser waren: "Strauß für Selbständigkeit" stand auf Seite eins. Endgültig vom Tisch war die Fusion dann aber erst im darauf folgenden Jahr "Selbständigkeit 100prozentig" titelten die Ebersberger Neuesten Nachrichten am 8. März 1979, dazu die Fotos drei sehr erleichterter Bürgermeister.

© SZ vom 06.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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