G8-Gymnasiasten:"Wir wollen das G9 zurück"

Lesezeit: 4 min

Ein Schuljahr weniger, aber dafür viel zu viel Stoff, Dauerstress und Schlaflosigkeit: Drei Münchner G8-Gymnasiasten erzählen, wie sie unter der neuen Oberstufe leiden.

Christa Eder

Wie unausgereift die G8-Schulreform ist, zeigt sich derzeit wieder an den zahlreichen Protesten über die neue gymnasiale Oberstufe Q11. Vollzeitunterricht bis zu 38 Stunden, plus zehn bis 20 Stunden Vorbereitungszeit, überfüllte Kurse und zu viel Stoff bringen die Schüler an den Rand des Machbaren. Für Jonas Geisperger, 16, Initiator des Schulstreiks, Andrea Kuzak, 18, vom Bertolt-Brecht-Gymnasium und Michaela Blahusch, 16, vom Nymphenburger Gymnasium ist eine 50 bis 60-Stunden-Woche seit diesem Schuljahr Alltag. Die Zeit fürs Interview bringen sie dennoch auf - am Sonntagvormittag.

SZ: Was nervt Euch an der neuen Oberstufe am meisten?

Jonas: Dass man sich weniger spezialisieren kann. Früher hat man die Leistungskurse nach Interesse und Begabung gewählt. Man konnte seine Stärken ausspielen. Jetzt geht das nicht mehr. Jetzt sollen alle Deutsch, Mathe und eine Fremdsprache gut können. Aber das kann man nicht erzwingen. Man muss spezielle Begabungen fördern.

Andrea: Der totale Leistungsdruck. Es wird keinerlei Rücksicht genommen, ob man den Stoff verstanden hat oder nicht. Der Stoff muss durchgezogen werden und das war's. Zu jeder Stunde und in jedem Fach sollen wir alles parat haben. Michaela: Ich finde sie zu anstrengend. Wir sind darauf nicht vorbereitet worden. Der Stoff ist viel komplizierter als in der Zehnten. Es wird einem zu viel zugemutet und es bleibt nichts mehr übrig für die Freizeit. Ich habe zwei Instrumente gespielt und war im Sportverein. Das habe ich alles aufgehört, weil keine Zeit mehr bleibt.

SZ: Wie viele Stunden pro Woche investiert Ihr für die Schule?

Andrea: Etwa 50 Stunden.

Michaela: Mit Lernen 55.

Jonas: Ich mache noch Musik und habe schon 39 Unterrichtsstunden, daher komme ich insgesamt auf 55 bis 60 Stunden.

SZ: Spürt Ihr den ganzen Stress auch gesundheitlich?

Andrea: Ja, manchmal bin ich schon am Verzweifeln und leicht depressiv, weil alles zu viel ist. Ich kann oft auch nicht mehr richtig schlafen und in der Schule bin ich zappelig.

Michaela: Ja, Schlaflosigkeit kenne ich auch, aber auch dieses Ausgelaugtsein - es fehlt die ganze Energie.

Jonas: Ich merke vor allem das Schlafdefizit. Bis neun bin ich mit der Schule beschäftigt, dann geht für mich erst der Tag an. Dann will ich noch was Schönes machen, Lesen, Musik, Fernsehen. Deshalb komme ich oft spät ins Bett.

SZ: Wünscht man sich da nicht lieber ein Erwachsenenleben mit einer geregelten 40-Stunden-Woche?

Andrea: Ja, manchmal beneide ich meinen Bruder, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt und dann frei ist und alles machen kann, wozu er Lust hat. Ich komme von der Schule und geh gleich zum Lernen. Meinen Sport habe ich total runtergefahren. Früher bin ich abends fast täglich zum Thaiboxen, heute kann ich nicht mehr. Ich will nur noch ins Bett.

SZ: Das Kumi hat kürzlich festgestellt, dass sich die Noten der neuen Oberstufenschüler nicht verschlechtert haben. Wie ist das bei Euch?

Andrea: Also mein Durchschnitt hat sich deutlich verschlechtert. Ich habe auch Angst, das Abi nicht zu schaffen. Zumindest wird es mir meinen Schnitt wegen Mathe verpatzen.

Michaela: Da ich sehr viel lerne, habe ich mich nur minimal verschlechtert.

Jonas: Weil die Noten fürs Abitur zählen, bin ich leistungsbereiter denn je. Ich habe mich verbessert, doch gerade deswegen ist die Belastung für mich sehr hoch.

SZ: Habt Ihr Angst, dass es für Euch als erste G8-Absolventen schwieriger wird, einen Studienplatz zu bekommen?

Jonas: Ich glaube schon. Der doppelte Abijahrgang wird für uns zur Konkurrenz, weil sich die G9-Abiturienten über die Leistungskurse besser profilieren können. Hinzu kommen noch die Bewerber aus den anderen Bundesländern.

SZ: Kennt Ihr jemanden, der die neue Oberstufe gut findet?

Michaela: Ich kenne niemanden.

Andrea: Ich kenne nur ein einziges Mädchen, das sie super findet. Es ist die Einserschülerin schlechthin, schon immer gewesen, liest den ganzen Tag Bücher, hat keine sozialen Kontakte und kann nicht verstehen, dass wir gegen die neue Oberstufe protestieren.

Jonas: Ich kenne keinen, der Feuer und Flamme ist. Manche finden es aber gut, dass man ein Jahr früher fertig ist.

SZ: Fällt Euch gar nichts Positives zur Oberstufe ein?

Andrea: Das Einzige wäre, dass man schriftliche Noten mit mündlichen ausgleichen kann. Das zählt jetzt eins zu eins und mit mündlicher Mitarbeit kann man einiges ausbügeln.

Jonas: Ich denke, es gäbe schon ein paar positive Ansätze, aber in der Praxis haut das nicht hin. Immer schneller, immer kürzer - das hat was Fanatisches. Aber Bildung braucht Zeit und muss sich festigen können.

SZ: Seit es das G8 gibt, gab es immer wieder Reformen und Reförmchen. Ist davon irgendetwas bei Euch angekommen?

Jonas: Eigentlich nicht. Das war alles Kosmetik und Flickschusterei, aber es hat nichts grundlegend geändert. Derzeit ist von Nachsteuerung die Rede, aber das zeigt doch auch, dass man sich vorher nicht überlegt hat, wo man eigentlich hinsteuern will.

SZ: Habt Ihr das Gefühl, Ihr könnt den Lernstoff verwerten?:

Michaela: Nein. Wir lernen für die Schulaufgaben und danach vergessen wir alles wieder. Es sind ja auch so viele Arbeiten und Exen. Wir können das alles gar nicht behalten. Wir sind nicht fähig dazu, weil es einfach zu viel ist, vor allem in den Naturwissenschaften.

Andrea: Und wenn wir nicht mitkommen, empfehlen uns die Lehrer, Nachhilfe zu nehmen.

Jonas: Ich kenne auch einige, die privat Nachhilfe nehmen, darunter auch Leute, die gar nicht so schlecht sind, die sich aber verbessern wollen.

SZ: Fühlt Ihr Euch wie Versuchskaninchen?

Jonas: Schon. Das ist zwar zwangsweise so, wenn ein Systemwechsel stattfindet, aber hier wird keine Rücksicht genommen. Wir sind nicht vorbereitet. Wir wissen noch immer nicht, wie das Abitur ausschaut. Wir wissen nicht, was uns erwartet - auch unsere Lehrer nicht. Die Kollegstufe war sicher auch nicht leicht, aber wir bekommen die Umstellung in vollster Härte ab. Und wir sind ja auch ein Jahr jünger. Wir müssen das jetzt irgendwie machen.

SZ: Hättet Ihr lieber wieder das G9?

Andrea: In jedem Fall lieber. Im G8 müssen wir alle Fächer bis zum Ende mitziehen. Jemand entscheidet einfach, dass wir das können müssen. Wir werden bevormundet.

Jonas: Ja. Oder zumindest die Möglichkeit zu wählen. Man sollte entscheiden können und das G8 und G9 parallel laufen lassen.

Michaela: Ich hätte auch gerne eine Wahlmöglichkeit gehabt.

© SZ vom 08.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: