Wenn Obdachlosigkeit das Leben bestimmt:Ohne Halt

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Lisa und Celine sind 19 Jahre alt und haben keine eigene Wohnung. Die Eltern haben den Kontakt zu ihren Töchtern abgebrochen. Die beiden Mädchen hoffen nun auf ein normales, geregeltes Dasein mit Wohnung und Arbeit

Von Ariane Lindenbach, Germering

Jenseits der Klischees: Lisa und Celine sieht man ihre Obdachlosigkeit nicht an. Aber ihre Lebensläufe zeigen Elemente, die sich häufig finden, wenn jemand in eine soziale Schieflage gerät. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Celine und Lisa sitzen auf der Straße. Nicht wortwörtlich, sondern im übertragenen Sinn. Die 19 Jahre alten Mädchen haben keine eigene Wohnung, keinen Schlüssel für eine Tür, hinter der ihr eigenes Heim auf sie wartet. Und sie haben keine Familie, zu der sie gehen könnten oder die sie empfangen würde. Celine und Lisa bezeichnen sich selbst als obdachlos. Dabei würde das niemand vermuten, wenn man den jungen Frauen auf der Straße begegnet: Sie wirken sauber und gepflegt, Celine ist sorgfältig geschminkt. Keine fettigen Haare, kein Schmutz unter den Nägeln, keine dreckigen Klamotten. Das gepflegte Äußere hängt auch damit zusammen, dass Celine derzeit in einer Wohnung der Stadt Germering wohnt, die als Obdachlosenunterkunft genutzt wird. Lisa, seit zwei Jahren auf der Straße, verbringt dort auch einen Großteil der Zeit. "Ich und Celine, wir sind eigentlich wie Schwestern", sagt sie. Und klingt wie ein großer Bruder, während sie die zierliche Celine in den Arm nimmt und zu sich heranzieht.

"Ich muss jetzt ausziehen, keine Ahnung wohin mit meinen ganzen Sachen", sagt Celine mit dramatischem Augenaufschlag. Auf konkretere Fragen, wann sie die Wohnung verlassen muss oder wie lange sie schon dort wohnt, antwortet sie nur vage und ausweichend: Das könne sie jetzt nicht so genau sagen oder sie wisse es noch nicht, druckst sie dann herum. Die Stadt Germering, genauer deren Mitarbeiter, können da konkreter antworten, etwa Regina Murach vom Amt für Jugend, Familie, Senioren, Soziales und Schulen. Die Wohnungen der Stadt für Obdachlose werden auf drei Monate befristet, erläutert sie. "Wenn derjenige seine Auflagen erfüllt, wird es in der Regel verlängert." Was also heißt, dass Celine, die wie Lisa nur mit ihrem Vornamen in der Zeitung stehen will, diese Auflagen wohl nicht erfüllt hat.

Fakt ist jedenfalls, dass weder Celine noch Lisa eine Wohnung haben oder bei ihren Familien leben können. Sie gehören zu den 200 Menschen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren im Landkreis Fürstenfeldbruck, die als obdachlos gelten. Diese erschreckend hohe Zahl kam bei einer Erhebung im Auftrag des Landkreises vor zwei Jahren heraus. Wie hoch die Zahl an Obdachlosen insgesamt ist, ist unklar. Fest steht aber, dass sie deutlich steigt. Es sind nicht mehr nur Geringverdiener betroffen. Die Mieten stiegen in den vergangenen Jahren derart rasant an, dass schoneine Trennung reicht, damit der Partner auf der Straße sitzt, der die ehemals gemeinsame Wohnung verlässt. "Die Zahlen steigen", berichtet auch Murach. Die Stadt Germering biete von Januar an 30 weitere Plätze für Obdachlose an. Aber die seien jetzt, Mitte Dezember, bereits belegt.

Für Celine und Lisa ist das kein Trost. Die beiden haben sich vor ein paar Jahren in einem Landschulheim kennengelernt. Und sie wollen nichts mehr als ein normales Leben, wie Lisa versichert. "Mein Wunsch ist, dass ich wieder ein geregeltes Leben habe, Wohnung, Arbeit." Derartige Wünsche kann der SZ-Adventskalender den jungen Frauen nicht erfüllen. Also wünschen sich die beiden Gutscheine für Lebensmittel.

Wer Celines Geschichte hört, denkt unweigerlich an das klassische Opfer einer Patchwork Familie: Sie ist die Älteste von zwei Geschwistern, ihr Bruder ist zwei Jahre jünger. Als sie 15 Jahre alt ist, trennen sich die Eltern, ziehen in verschiedene Wohnungen, der Vater zur neuen Freundin. Celine bleibt bei der Mutter, die schon vorher üblichen Streitereien nehmen zu. Sie zieht zum Vater, versteht sich aber nicht mit seiner neuen Partnerin. Auch hier gibt es Streit - obwohl sie sich als "Papakind" bezeichnet. Celine zieht auch mal zur Oma, dort läuft es ebenfalls nicht gut. Das Mädchen zieht hin und her, aus den Streitereien werden Handgreiflichkeiten, "auch von meiner Seite", bekennt Celine. "Irgendwann habe ich angefangen, mich zu ritzen." Damit meint die zierliche junge Frau, die gerne in Münchner Clubs feiert, Selbstverletzungen; oft tauchen die im Zusammenhang mit dem Borderline-Syndrom auf.

Celine jedenfalls berichtet auch von Aufenthalten in der Psychiatrie. Irgendwann hätten die Eltern sie in ein Landschulheim geschickt. Dort lernte sie Lisa kennen. Obwohl Celine nur noch sporadisch Zuhause war, gingen die Streitigkeiten in der Familie weiter, vor einem halben Jahr kam dann der Rauswurf durch ihren Vater. Auch an diesem Punkt bleibt die Erzählung vage. Aber man muss kein Genie sein, um aus den Anhaltspunkten herauszulesen, dass Celines Eltern mit ihren jeweiligen neuen Partnern und Kindern nur noch wenig Interesse an der größten, formal schon erwachsenen Tochter haben.

Lisas Lebensgeschichte ist nicht weniger traurig. Im Landkreis Landsberg am Lech aufgewachsen, kommt sie mit zehn Jahren ohne Vorwarnung in ein Heim. Das Erlebnis muss traumatisch für sie gewesen sein, noch immer erinnert sich Lisa genau an diesen Tag, als Mitarbeiter des Jugendamtes sie einfach aus dem Unterricht holten und ins Heim brachten. Ihr bisheriges Leben war plötzlich vorbei. Der Grund: Lisas Mutter war wegen psychischer Probleme in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden. Offenbar blieb sie dort auch lange, Lisa erzählt nicht viel darüber. Jedenfalls war der Kontakt zum Elternhaus von diesem Zeitpunkt an massiv gestört.

Inzwischen sind ihre Eltern getrennt. Ihr Vater schlage sie, sagt die 19-Jährige auf die Frage, ob sie nicht bei ihren Eltern leben könne. Ihre Mutter erwähnt Lisa nicht. Gut möglich, dass sie immer noch unter psychischen Problemen leidet. Jedenfalls erscheint es weder für Lisa noch für Celine eine Option zu sein, über das Zusammenleben mit ihren Eltern wieder in ein stabileres Leben zu kommen. Ihre Eltern, rufen Celine und Lisa wie aus einem Munde - und es schwingt eine Mischung aus Trotz und Triumph mit - "wollen keinen Kontakt".

© SZ vom 23.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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