Wann ist Lärm eine Last?:Jenseits der Stille

Lesezeit: 3 min

Geräuschlos, ohrenbetäubend, schön, schrecklich - Lärmquellen werden subjektiv bewertet. Musiker und Kinder genießen Sonderstatus, aber ein Brucker Hahn muss ins schalldichte Nachtquartier umziehen

Von Stefan Salger, Fürstenfeldbruck

Was ist laut, was leise? Was ist melodisch, was ist ohrenbetäubend? Ansichtssache. Oft müssen Behörden oder Gerichte in Streitfällen abwägen. Wie etwa beim Speedway oder der abendlichen Nutzung der Mehrzweckhalle in Olching sowie jüngst bei den Bogenschützen in Gröbenzell. Oder beim Hahn, der jeden Morgen um 4 Uhr kräht. Auf dem Land so normal wie die Kirchen- oder Kuhglocken, mit denen sich fast schon regelmäßig Richter beschäftigen müssen. Mitten in der Stadt sieht die Sache - mit der sich vor ein paar Tagen die Brucker Stadtverwaltung beschäftigt hat - anders aus. Nachdem sich Nachbarn beschwert hatten, muss der gefederte Krakeeler nun aufs Land ziehen oder nachts in einen schalldichten Raum.

Die Grenzen sind fließend. Wer abends im Biergarten sitzt, für den ist das entspannend. Und ein gewisser Geräuschpegel gehört dazu. Wer aber gegenüber wohnt, am nächsten Tag früh arbeiten muss und bei sommerlichen Temperaturen das Schlafzimmerfenster kippen will, für den kann das allabendlichen Stress bedeuten. 1999 wurde die Biergartenverordnung angepasst, seither beginnt in diesem Ausnahmefall die Nachtruhe statt um 22 erst um 23 Uhr. Je nachdem, ob es sich um ein reines Wohngebiet oder ein Mischgebiet handelt, werden als maximal zulässige "Immissionsrichtwerte" 55 bis 65 Dezibel (A) angegeben.

Der Puchheimer Bahnhof. Vor allem unter verkehrsbedingtem Lärm leiden viele Menschen. Schutzwände schirmen oftmals nur unzureichend ab. (Foto: Johannes Simon)

Sehr theoretische Werte, zudem hat kein normaler Mensch immer ein entsprechendes Messgerät zur Hand. Zur Hand hat der Lärmgeplagte eher den Telefonhörer. Und am anderen Ende meldet sich die Polizei. Noch häufiger als um Biergärten geht es dann um ausufernde Privatpartys, wie Michael Fischer von der Brucker Inspektion berichtet. Die Beschwerden häufen sich in den Sommermonaten. Dann muss schon mal ein Platzverweis ausgesprochen werden. Besonders Renitente geben erst dann Ruhe, wenn die beschlagnahmte Stereoanlage im Streifenwagen landet. "Manche Leute sind sich aber auch gar nicht der Belästigung bewusst", sagt Fischer, der sich darüber wundert, dass die Leute sich lieber bei der Polizei melden, anstatt den Nachbarn erst einmal höflich zu bitten, doch etwas leiser zu sein. Auf der Polizeiwache ist vor ein paar Monaten einmal sogar eine Frau erschienen, die sich über das offensichtlich schwer verliebte Paar nebenan beschwerte, das mitten in der Nacht regelmäßig viel zu laut zugange sei. Da muss selbst die Polizei meist passen. Schwer belegen lässt sich auch eine Lärmbelästigung durch "unnützes Hin- und Herfahren innerhalb einer geschlossen Ortschaft", beispielsweise vor der Eisdiele oder bei einem Autokorso, das laut Paragraf 30, Absatz 1 der Straßenverkehrsordnung mit 20 Euro geahndet werden kann - oder besser: könnte.

Ganz schlechte Karten haben sensible Menschen, wenn sie sich über Kinder oder Hausmusik beschweren. Denn während man den Gettoblaster leiser drehen und auf den Einsatz der Bohrmaschine während der Mittagsruhe (meist 13 bis 15 Uhr), Nachtruhe (von 22 Uhr an) oder am Sonntag verzichten kann, sind solche Geräusche weitgehend hinzunehmen.

Der deutsche Schlagerbarde Reinhard Mey kennt beide Seiten. Das Lied "Irgendein Depp bohrt irgendwo immer" von 1996 schreibt er 2002 aus leidvoller eigener Erfahrung um zu "Irgendein Depp mäht irgendwo immer": Bereits 1979 aber zeigt er viel mehr Nachsicht mit einer anderen "Lärmquelle" auf zwei kleinen Beinen. In "Keine ruhige Minute" heißt es: "Das Haus fing doch erst an zu leben, seit dein Krakeelen es durchdringt, seit Türen knall'n, und Flure beben und jemand drin Laterne singt."

Nur konsequent, dass die Gesellschaft versucht, mutwillige Ruhestörer und Verkehrslärm einzudämmen, Kindern und Künstlern aber einer Sonderstatus zubilligt. Das gilt für Spielplätze ebenso wie für Kindergärten. Lärm? Nein: Raum für ungezügelte Lebensfreude! Kinder müssen nicht mucksmäuschenstill sein! Gleiches gilt für Musiker in den eigenen vier Wänden: Geige, Trompete, Klavier, sogar Schlagzeug in der Wohnung? Tagtäglich? Ausdrücklich erlaubt! Das hat erst vor ein paar Wochen wieder das Münchner Landgericht bestätigt.

Leben und leben lassen: Bundesbauministerin Hendricks will noch dieses Jahr die Ausweisung "urbaner Gebiete" ermöglichen. Dort könnten Wohnhäuser neben Werkstätten, Schulen oder Sportplätzen gebaut werden. Gegenüber reinen Wohngebieten sollen die zulässigen Lärmobergrenzen angehoben werden. Denn die zumutbare Ausprägung von Lärm bedeutet mitnichten Grabesruhe.

© SZ vom 09.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: