SZ-Serie: "Inklusion" (Teil 9):Für ein Leben ohne Hindernisse

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Barrieren erschweren nicht nur Menschen mit Behinderungen den Alltag, sondern auch Älteren oder Müttern mit Kinderwagen. Allein diese Erkenntnis zeigt, wie wichtig ein Umfeld ist, das niemanden ausgrenzt. Ein Teilhabe- und Aktionsplan soll nun aufzeigen, wo im Landkreis Nachholbedarf besteht

Von Heike A. Batzer, Fürstenfeldbruck

Den Begriff "all inclusive" kennen wohl die meisten als eine spezielle Form des Urlaubmachens: Der Zusatz bedeutet, dass alle Leistungen wie Essen und Trinken eingeschlossen und enthalten sind. Mit dem Begriff Inklusion, der vom selben lateinischen Wort "includere" abstammt, können dagegen viele Zeitgenossen noch nichts anfangen. Deshalb will der Landkreis Fürstenfeldbruck von seinen Bürgern erst einmal wissen, ob sie das Wort Inklusion schon einmal gehört haben. Es ist die erste Frage einer Umfrage, an der sich jeder Landkreisbürger auf der Internetseite einfach-machen-ffb.de beteiligen kann. Bis Anfang Oktober ist das noch möglich. Je mehr mitmachen, desto größer ist schließlich die Datenbasis, die der Landkreis auswerten kann. Die Umfrage soll Erkenntnisse darüber bringen, wie weit der Kreis Fürstenfeldbruck bereits ist auf dem Weg zur zukünftigen Gesellschaft, die alle einschließt und niemanden mehr ausgrenzt.

Die Umfrage soll Daten liefern für einen Teilhabe- und Aktionsplan, den der Landkreis auszuarbeiten beschlossen hat, um die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Dem Plan kommt entscheidende Bedeutung auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft im Landkreis zu, denn der Aktionsplan will Handlungsfelder und mögliche Lösungsansätze bündeln, die notwendig sind, um die Teilhabe aller Landkreisbürger, mit und ohne Einschränkungen, voranzubringen. Man möchte damit in Erfahrung bringen, wo im Landkreis noch Defizite bestehen und wer in welchem Zeitrahmen für deren Beseitigung zuständig ist, sagt Landrat Thomas Karmasin (CSU).

Viele Menschen denken zuvorderst an Rollstuhlfahrer oder vielleicht Menschen mit Down-Syndrom, wenn sie von behinderten Menschen sprechen. Dabei gibt es viel mehr Einschränkungen, mit denen Menschen zu leben haben - körperlicher, psychischer, seelischer Natur. Über allem steht dabei die Erkenntnis, dass der dafür notwendige Abbau von Barrieren in sämtlichen Bereichen des Alltags nicht nur behinderten Menschen hilft, sondern allen Menschen. Der Behindertenbeauftragte des Landkreises, Herbert Sedlmeier, bringt es auf den Punkt, indem er betont, er spreche ganz bewusst nicht von Menschen mit Handicap, sondern "von der Mutter mit dem Kinderwagen. In diesem Beispiel finden sich alle wieder".

Ein Aktionstag im April in Germering mit Mitmachangeboten machte Inklusion zum Thema. (Foto: Johannes Simon)

Mit einem Kinderwagen in einen Zug einsteigen oder die Stufen zu einem Geschäft betreten, kann beschwerlich, bisweilen sogar unmöglich sein. Überall Schwellen, Kanten, Hindernisse. Zu viele Barrieren sind das sichtbarste Zeichen dafür, dass noch lange nicht alle gleiche Bedingungen im Alltag vorfinden. Das Fehlen von Barrieren wird aber auch in einer älter werdenden Gesellschaft wichtiger werden und sozusagen eine neue Zielgruppe erschließen, denn auch ältere Menschen tun sich bisweilen mit der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben schwer.

Behindertenverbände und in den Kommunen auch die Behindertenbeiräte machen schon lange auf das Problem aufmerksam. Behinderung lasse sich nicht nur nach den vom Versorgungsamt zugestandenen Prozenten beurteilen, sondern an den tatsächlichen Einschränkungen, heißt es etwa beim Behindertenbeirat Fürstenfeldbruck, der sich deshalb zuvorderst für Barrierefreiheit einsetzt. "Zum Beispiel Gehwege, die nicht zugeparkt oder mit Plakattafeln zugestellt sind, Haltestellen für Omnibusse mit mühelosen Ein- und Ausstiegen, Bahnsteige, die auch für Rollstühle und Kinderwagen erreichbar sind, ein ungehinderter Zugang zwischen Altenheimen, Kreisklinik und Stadtpark sowie die Verbesserung der Verweilqualität in der Innenstadt", umreißt der Beirat auf der Internetseite der Stadt seine Ziele.

Mit dem Teilhabe- und Aktionsplan verbindet sich demnach die Hoffnung, dass das Thema nunmehr aus seiner Nische geholt und ein Thema für die breite Öffentlichkeit wird und damit Verbesserungen tatsächlich auf den Weg gebracht werden. Sedlmeier nannte deshalb die Auftaktveranstaltung zur Entwicklung des Aktionsplans im April 2015 einen "sehr erfreulichen Augenblick". Dabei geht es auch darum, Barrieren und Hemmnisse in den Köpfen abzubauen, um Menschen mit und ohne Behinderung in Zukunft ganz selbstverständlich zusammen zu bringen. Teilhabe bedeute eben nicht, dass Menschen mit Behinderung lediglich mitmachen dürften, sagt der Diplom-Sozialpädagoge Norbert Schindler von der Hochschule für angewandte Wissenschaften, der am Landkreis-Teilhabeplan federführend mitwirkt. Teilhabe bedeute, "dass jeder selbst Dinge einbringen kann, dass jeder der Gesellschaft etwas geben kann".

Den Kommunen kommt bei der Umsetzung eine wichtige Aufgabe zu, bestimmen sie doch das unmittelbare Lebensumfeld jedes Menschen. Im Landkreis Unterallgäu, der kürzlich einen Aktionsplan formuliert hat, hat man erkannt, dass man das Thema Inklusion ohnehin "nicht umfassend und abschließend" behandeln könne, sondern dass es vielmehr darum gehe, "einen kleinen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Entwicklung zu leisten, die als gut und richtig erkannt wurde, sich einzureihen in eine Vielzahl von Akteuren, die sich mit dem Thema auseinandersetzen und so dem gesamtgesellschaftlichen Prozess Schwung zu geben und Signale zu setzen".

Seit anderthalb Jahren nun sind Fachleute von Wohlfahrtsverbänden, Selbsthilfe- und Behinderteneinrichtungen, Behindertenbeiräte und -beauftragte, Vertreter aus Politik und Wirtschaft, aus Sport und Kultur, von der Arbeitsagentur und den Kommunalverwaltungen im Landkreis Fürstenfeldbruck mit der Ausarbeitung des Aktionsplans beschäftigt. Koordiniert wird das Projekt von der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Hochschule für angewandte Wissenschaften München und dem Verein Dreirat, einem Verein für integriertes bürgerschaftliches Engagement in München. Experten aus verschiedenen Einrichtungen des Landkreises beraten in kleinen Arbeitsgruppen, aufgeteilt wurde das Thema Inklusion in die fünf Bereiche Arbeit, Bildung, Mobilität/Wohnen/Bauwesen, Gesundheit/Kultur/Freizeit/Sport und Bewusstseinsbildung. Gerade letzteres hält Schindler als flankierende Maßnahme für wichtig, "um Inklusion immer wieder zum Thema zu machen". Die Wissenschaftler haben Landrat Thomas Karmasin und die Bürgermeister in Videointerviews zum Stand der Inklusion in ihren Kommunen und zu ihrer Einschätzung befragt. Auf einem eigenen Aktionstag in Germering unter dem Motto "Vielfalt leben, Inklusion gestalten" im April dieses Jahres wurden auch Meinungen von Besuchern eingeholt und das Thema in verschiedenen Diskussionsrunden und Mitmachangeboten veranschaulicht. Derzeit stecken die Wissenschaftler Schindler zufolge in der letzten Phase der Auswertung der gesammelten Daten. Im Frühjahr soll der Aktionsplan fertig sein, dann wird ihn der Kreistag beraten.

"Der Landkreis hat eine Menge Potenzial", sagt Schindler in einem ersten Fazit. In den größeren Städten existierten bereits gute soziale Strukturen. Auch Landrat Karmasin sieht seinen Landkreis auf einem guten Weg: "Wir brauchen uns, glaube ich, nicht zu verstecken." Karmasin verweist darauf, dass die landkreiseigenen Schulen und Einrichtungen mit Ausnahme des unter Denkmalschutz stehenden Bauernhofmuseums Jexhof "fast alle barrierefrei saniert und umgebaut sind", dass der Landkreis über zwei Förderzentren verfüge und von der Frühförderung mit der Stiftung Kinderhilfe bis zur Altenversorgung "gut aufgestellt" sei. Nachholbedarf sieht Karmasin auf dem Arbeitsmarkt: Die Erholung dort sei an den Menschen mit Handicap "fast spurlos vorüber gegangen". Auch gebe es nicht genügend barrierefreie Wohnungen, Gaststätten seien nur zu einem kleinen Teil barrierefrei umgebaut, Beherbergungsbetriebe böten kaum barrierefreie Zimmer an und Schulen und Kindertagesstätten arbeiteten häufig noch nicht inklusiv. Bis Inklusion tatsächlich verwirklicht sei, dauere das noch Jahre und Jahrzehnte, sagt der Sozialpädagoge Schindler: "Das ist ein dynamischer Prozess, das wird sich immer weiter entwickeln."

Einzelne Projekte, die Inklusion im Landkreis anstoßen oder verwirklichen, werden nach und nach in einer deutschlandweiten Inklusionslandkarte aufgenommen. Die kann man auf einfach-machen-ffb.de einsehen und ergänzen. Erste Ergebnisse für den Landkreis kann man dort bereits abrufen. Etwa das Projekt "Mit Hilfe geht's besser", das es seit 2011 an der Grundschule Mitte in Fürstenfeldbruck gibt und das den Einsatz von ehrenamtlichen Klassenpaten vorsieht. Oder das Projekt "Lernasse sind Klasse", das Lernassistenten zur Unterstützung einzelner Kinder an der Gröbenzeller Ährenfeldschule und der Grundschule Maisach vorsieht. Aufgebaut wird auch ein sogenannter Regionalatlas, auf dem sich sämtliche Vereine und Organisationen finden, die in irgendeiner Form mit Inklusion befasst sind. Man kann die jeweiligen Punkte anklicken und erhält dann mehr Informationen. Dass dem Landkreis das Thema aber schon immer wichtig gewesen sei, zeigt laut Karmasin schon die Tatsache, dass es seit fast 25 Jahren einen eigenen Behindertenbeauftragten für den Landkreis gibt - bereits seit 19 Jahren als hauptamtliche Stelle.

© SZ vom 12.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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