SZ-Serie: "Inklusion", Teil 13:Miteinander statt nebeneinander

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Die Stiftung Kinderhilfe betreibt im Landkreis Frühfördereinrichtungen und kümmert sich nicht nur um die Kinder. Sie stellt sich auchder gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, das Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten zu fördern

Von Manfred Amann, Fürstenfeldbruck

Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die alle Lebensbereiche umfasst. Ob auf Kinderspielplätzen, in Kindertagesstätten, in Schulen, in der Kirche, auf der Straße, in Parks, in Kaufhäusern, in Gaststätten oder in Vereinen, überall sollten Menschen mit und ohne Behinderung miteinander ihren jeweiligen Möglichkeiten entsprechend ein "normales Leben" führen können. Dass dieser Idealzustand einmal erreicht werden könnte, daran glauben weder Soziologen, Sozialpsychologen noch Sozial- politiker. Aus fachlicher Sicht steht dem nämlich ganz wesentlich die Einstellung einer Mehrheit der Bevölkerung entgegen. Viele Erwachsene sind einfach nicht bereit oder nicht in der Lage, Menschen mit Behinderung als Spiel- oder Lernpartner ihrer Kinder, als Kollegen, als Interessengleiche oder in geselliger Runde anzunehmen und das Nebeneinander von Menschen mit und ohne Behinderung als Selbstverständlichkeit zu akzeptieren.

Unterschiedlich gefärbt, unterschiedlich gespitzt, aber alle beieinander wie in inklusiven Kinderbetreuugseinrichtungen. (Foto: Johannes Simon)

Der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft sei ein steiniger, langer aber lohnenswerter Prozess, glaubt Beatrix Mülling-Urban vom Vorstand der Stiftung Kinderhilfe Fürstenfeldbruck, bei der sie auch für Heilpädagogik zuständig ist. Es werde Generationen dauern, bis die Vorbehalte aus den Köpfen verdrängt sein werden. Am schnellsten und nachhaltigsten würde dies gelingen, wenn Menschen mit Behinderungen von Kindesbeinen an miteinander leben könnten, findet die heilpädagogische Leiterin. Beginnen sollte man mit der Inklusion daher "so früh wie irgend möglich", rät Marija Gschwind. Die promovierte Sozialpädagogin leitet die interdisziplinäre Frühförderstelle der Kinderstiftung, deren Aufgabe es allgemein betrachtet ist, Kinder mit geistigen, seelischen oder körperlichen Beeinträchtigungen so zu fördern, dass sie trotz ihres Handicaps in ihrem gewohnten Lebensumfeld zurechtkommen. Je früher Defizite in der altersgerechten Entwicklung, Verhaltensauffälligkeiten, körperliche und geistige Einschränkungen therapiert werden können, desto größer ist die Chance, sie zumindest erträglich zu machen oder gar zu heilen", hebt Gschwind hervor.

Marija Gschwind und Beatrix Mülling-Urban von der Kinderhilfe. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Pfarrer Martin Bickl, der in der Pfarrei Eichenau-Alling für Regel- und Integrationstagesstätten verantwortlich ist, sieht darin den richtigen Ansatz. Kinder sollten "nur wenn es gar nicht mehr anders geht" in heilpädagogische Sondereinrichtungen geschickt werden, führt der Seelsorger an und warnt davor, "aus wirtschaftlichen Gründen" davon abzugehen und separate Fördereinrichtungen zu schaffen, in denen Menschen mit Behinderung unter sich sind. Für Eltern sei es sicher nicht leicht, zu entscheiden, ob sie den für sie bequemeren Weg gehen oder den meist beschwerlicheren, der sich am Kindeswohl orientiert. "Wenn Kinder mit und ohne Handicaps miteinander aufwachsen, lernen sie voneinander und das Nebeneinander wird zur Normalität", erläutert dazu Gschwind. Und dieses Erleben, dass man mit Menschen mit Einschränkungen gut zusammenleben könne, wirke das ganze Leben nach. Für gesunde Kinder werde es zum Beispiel selbstverständlich, Rücksicht zu nehmen oder Hilfestellung zu leisten, und Behinderte würden durch die Erfahrung, nicht ausgegrenzt, sondern eingebunden zu sein, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert und in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt.

Die interdisziplinäre Frühförderung bietet in enger Zusammenarbeit mit Betreuungseinrichtungen psychologische, heilpädagogische und medizinisch-therapeutische Behandlung vom Säugling bis zur Einschulung an. Das Angebot richtet sich an Eltern, die Sorge haben, ob sich ihr Kind altersgerecht entwickelt, die Verhaltensstörungen vermuten oder die von einem Kinderarzt von Betreuungseinrichtungen auf Defizite hingewiesen werden. Momentan nehmen 172 Eltern aus dem Landkreis Frühförderung in Anspruch.

"Am Anfang steht eine offene Beratung. Nach einer Diagnostik wird danach in engster Abstimmung mit den Eltern und eventuell der Kindertagesstätte ein individuelles Förderkonzept erarbeitet. Dafür stehen Sonderpädagogen, Hilfskräfte sowie Psycho-, Physio- und Ergotherapeuten sowie Logopäden zur Verfügung. "Leider müssen wir immer wieder feststellen, dass Eltern nur sehr zögerlich zu uns kommen", bedauert Gschwind. Oft seien Ängste, die Nachbarn oder Freunde könnten sich was denken und sich abwenden, wenn sie erfahren, dass ihr Kind therapiert wird, dafür der Grund. Manche Entwicklungsdefizite seien aber nur temporär und könnten mit einer gezielten Therapie wieder behoben werden. Sollte Förderung über einen längeren Zeitraum nötig sein, helfe dies nachhaltig, das Leben relativ eigenständig zu meistern. Die Frühförderstelle hilft auch, die Finanzierung, die auf einem Rahmenvertrag zwischen dem Bezirk Oberbayern und den Krankenkassen basiert, zu regeln.

© SZ vom 21.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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