SZ-Serie "Inklusion":Nur in der Vorstellung ist der Himmel blau

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Nur wenn die Buchstaben, wie hier bei der Fernsehzeitung, ganz groß mit einem Lesegerät vergrößert sind, kann Elisabeth Chemnitz lesen. (Foto: Günther Reger)

Blinde und sehbehinderte Menschen hören, fühlen und riechen ihre Umgebung. Wie sie aussieht, wissen sie meist nur aus der Erinnerung. Damit sie ihr Leben nicht nur zu Hause verbringen, wo sie sich gut zurechtfinden, unterstützt sie eine Selbsthilfegruppe der Germeringer Insel

Von Karl-Wilhelm Götte, Germering

Dunkel bis grau ist für Blinde und stark sehbehinderte Menschen Alltag. Doch um ihn zu bewältigen, hilft die Barrierefreiheit draußen ihnen nicht wirklich. Erst mit Unterstützung technischer Hilfsmittel und der Unterstützung durch Mitmenschen und Angehörige ist es ihnen möglich, am sozialen Leben teilzunehmen, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Das stellen nicht nur die Sehbehinderten jeden Tag selbst fest, sondern zum Beispiel auch in der Germeringer Selbsthilfegruppe.

"Meine Barrierefreiheit ist die Familie", sagt Hildegard Tonkel. Sie besitzt nur noch eine Sehkraft von fünf Prozent. Das reicht gerade, um hell und dunkel unterscheiden zu können. Und es ist wohl auch ein Grund, warum Sehbehinderte wie Hildegard Tonkel sich da lieber aufhalten, wo sie alles kennen und sie kaum Überraschungen erleben: Man ist zu Hause", bestätigt auch Elisabeth Chemnitz. Das ist für Blinde und Sehbehinderte der Normalzustand. Hildegard Tonkel ergänzt: "Ohne Begleitung kann ich nicht mehr rausgehen."

Hildegard Tonkel sieht hochgradig unscharf, häufig nur Grautöne und die nur mit schwachem Kontrast. "Das hat vor 36 Jahren begonnen", erzählt sie. Heute ist sie 65 Jahre alt. 20 Jahre hat sie als Büroangestellte ihre Arbeit mit der Sehbehinderung erledigen können. Vor 15 Jahren, nachdem die Sehkraft weiter nachgelassen hatte, musste sie ihre Arbeit schweren Herzens aufgeben.

Vor vier Jahren, nach dem Tod ihres Mannes, kam sie zur Selbsthilfegruppe der Blinden und Sehbehinderten. Heute leitet sie zusammen mit Elisabeth Chemnitz die Gruppe. Sie hat sich in dieser Gemeinschaft gleich sehr wohl gefühlt. "Das gibt einem eine enorme psychologische Unterstützung, wenn man mit Gleichgesinnten zusammen ist", sagt sie. Der Erfahrungsaustausch und das Ratschen sind immer wichtig. Einmal im Monat findet das Treffen statt. Zusammen kommen eine blinde Germeringerin und etwa ein Dutzend stark Sehbehinderte. Wenn gewünscht, werden Vorträge organisiert. Die Gruppe ist stets daran interessiert, alles über neue technische Hilfsmittel zu erfahren. Wer an der Runde teilnimmt, erkennt die anderen zumeist an der Stimme. "Hören und sprechen stehen im Mittelpunkt", sagt Hildegard Tonkel.

Die Germeringer Insel, die soziale Koordinierungsstelle in Germering, bietet das Dach für alle Selbsthilfegruppen. Christa Tretschock und Gertrud Roth, beide normal sehend, betreuen die Gruppe der Blinden und Sehbehinderten seit ihrer Entstehung vor 21 Jahren. "Wir backen Kuchen und decken den Kaffeetisch", erzählt Tretschock. Ein Kleinbus holt die blinden und sehbehinderten Menschen von Zuhause ab. "Ohne Hilfe können sie nicht am normalen Leben teilnehmen", berichtet Tretschock von ihren langjährigen Erfahrungen. Ohne technische Hilfsmittel kommt auch Hildegard Tonkel nicht mehr aus. Zentrales Mittel, um ihr Leben zu organisieren, ist ihr Bildschirmlesegerät. Das vergrößert jede Zeitung, ein Rezept oder einen Kontoauszug.

Elisabeth Chemnitz beschreibt ähnliche Alltagserfahrungen: "Ich kann Menschen erst erkennen, wenn ich ganz nah an ihnen dran bin." Straßenschilder könne sie nicht lesen, auch keine Klingelschilder an den Haustüren. Wie beim Fernsehen müsse sie sich vieles im Leben vorstellen. "Ich sehe keinen blauen Himmel", sagt Chemnitz, "für mich ist er grau." Doch sie weiß von früher, dass er blau ist. Chemnitz gehört zur dominierenden Gruppe der Sehbehinderten, die die Behinderung erst im Laufe ihres Lebens ereilte. "Bei mir war es eine Regenbogenhautentzündung auf beiden Augen gewesen, die das schlechte Sehen bewirkte", erzählt die bald 70 Jahre alte Germeringerin. Das passierte vor 18 Jahren. Die Augenentzündung sei wohl durch einen Virus entstanden. Eine exakte Diagnose konnten die Ärzte damals nicht stellen. Bis 1998 habe sie ein völlig normales Leben geführt: "Ich habe bis dahin gesehen wie ein Adler." Das Autofahren war von heute auf morgen für sie passé gewesen. Heute ist sie auf dem rechten Auge erblindet und auf dem linken hat Chemnitz noch eine Sehkraft von zehn bis 20 Prozent.

Die Alltagsgeschäfte erledigt für Elisabeth Chemnitz ihre Tochter, nachdem ihr Ehemann vor zwei Jahren gestorben ist. Vor zehn Jahren war sie nach Germering gezogen. Da sie kaum aus dem Haus kommt, kennt sie sich in der Stadt nicht gut aus. So erledigt ihre Tochter alle Besorgungen für sie - auch das Einkaufen. "Im Haushalt komme ich zurecht", sagt Chemnitz. Doch sie kocht nicht mehr so regelmäßig wie früher. Häufig macht sie sich ihr Essen in der Mikrowelle warm.

Hildegard Tonkel hat in der Küche eine sprechende Waage, nicht fürs Körpergewicht, sondern eine Haushaltswaage zum Backen. Dann gibt es den Schlüsselpieper, um die Hausschlüssel zu finden oder eine sprechende Uhr, die per Knopfdruck die Zeit ansagt. Diese technischen Hilfsmittel erleichtern das Leben der stark Sehbehinderten, manchmal ist es aber auch anstrengend, sie zu benutzen. Da ist die Brille mit Lesegerät, die die Schrift stark vergrößert. "Richtig Zeitung zu lesen, ist schwierig, weil es auch ermüdend ist", sagt Tonkel, und Chemnitz kann ihr da nur zustimmen. Ähnlich ist es mit dem Fernsehen. Chemnitz stellt ihren Stuhl dann direkt vor das Gerät. "Ich sehe etwas, nicht viel", sagt sie. Internet gehe gar nicht. Hildegard Tonkel hat sich jetzt ein neues Fernsehgerät gekauft, das eine sogenannte Bildbeschreibung besitzt. Ein Sprecher beschreibt das, was der normal sehende Zuschauer sieht. "Ich höre Fernsehen", beschreibt Tonkel den Ablauf selbst. Sie weiß von anderen Sehbehinderten aus der Gruppe, dass manchen der Sprecher auf die Nerven geht.

Rauskommen, nicht immer nur daheim zu sein, das ist eine Anliegen der Germeringer Insel. Und so unterstützen Mitarbeiter der Insel Familienangehörige, die gerade keine Zeit haben, und bieten gegen einen kleinen Kostenbeitrag einen Fahrservice an. Hildegard Tonkel und Elisabeth Chemnitz nehmen diesen Chauffeurdienst gern in Anspruch. "Wir brauchen aber immer Begleitung, wenn wir rausgehen", bekräftigt Tonkel. Wenn das Blindengeld beantragt werden muss oder beim Kontakt mit der Krankenkasse helfen Tretschock und Roth. Abwechslung im Leben bringt mal ein Busausflug, der von der kirchlichen Don Bosco-Gemeinde organisiert wird. Abwechslung bringt auch das Treffen der Selbsthilfegruppe, das an jedem letzten Mittwochnachmittag im Monat in den Räumen der Germeringer Insel in der Planegger Straße stattfindet. "Wichtig ist", sagt Tonkel nachdrücklich, dass die Selbsthilfegruppe nicht als "trauriger Haufen" rüberkomme. "Wir sind immer sehr lustig, wenn wir zusammen sind."

© SZ vom 26.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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